Thursday, 27. December 2007

Alles ist relativ

Da Madame Verdurin an Migräne litt, weil sie morgens keine Hörnchen mehr in ihren Milchkaffee tauchen konnte, hatte sie schließlich von Cottard ein Attest erlangt, das ihr gestattete, aus einem bestimmten Restaurant [...] solche kommen zu lassen. [...] Ihr erstes Hörnchen nahm sie an dem Morgen wieder zu sich, an dem die Zeitungen über den Untergang der "Lusitania" berichteten. Während sie nun das Hörnchen in den Milchkaffee tauchte und ihrer Zeitung leichte Stupse gab, damit sie sie aufgeschlagen halten konnte, ohne zum Umblättern die mit dem Eintauchen beschäftigte Hand zu benutzen, sagte sie: "Wie grauenhaft! Das ist ja fürchterlicher als die entsetzlichsten Tragödien." Aber der Tod aller dieser Ertrunkenen musste ihr wohl doch auf ein Milliardstel seiner Größe reduziert erscheinen, denn während sie mit vollem Mund diese trostlosen Überlegungen anstellte, war der Ausdruck, der auf ihrem Gesicht lag und wahrscheinlich durch den Wohlgeschmack des Gebäcks darauf hervorgerufen wurde, das ihr so unschätzbare Dienste bei ihrer Migräne leistete, eher der eines sanften Behagens.
--Die wiedergefundene Zeit, Bd. 3/3, S. 3811

Nicht dass zumindest Cottards Attest hier ein unerwartetes Nachleben erlebt (vgl. voriger Eintrag) ist bemerkenswert, vielmehr ist es die Beobachtung, dass es der Padrona schließlich trotz der Katastrophe im sowieso schon sehr beileidsintensiven Weltkrieg nicht gelingt, ihre Befriedigung ob des Croissants zurückzuhalten.

Aber ist es nicht wirklich so? Seien wir mal ehrlich. Kommen Sie umhin, auch nach den fürchterlichsten Nachrichten schließlich doch einer ganz gegenläufig munteren Bewegung Ihres Geistes folgen zu müssen? Ich glaube nicht, dass Sie sich ernsthaft dafür schämen müssten. Schließlich leben wir in einem ständigen Gleichgewicht der Regungen, und wenn es schon so etwas wie ein großes, andauerndes Glück nicht zu geben scheint, wie sollte dann ein Mitleid eine so absolute Dimension haben können? Außer in einem sehr deprimierten Universum vielleicht.

Ich jedenfalls muss zugeben, dass es nur sehr wenige Dinge gibt, die mich hinreichend beschäftigen, um nachhaltig gegen ein wirklich gutes Hörnchen ankommen zu können... und vielleicht ist das ja auch ganz gut so.
Mme Verdurin, who suffered from headaches on account of being unable to get croissants to dip into her coffee, had obtained an order from Cottard which enabled her to have them made in the restaurant mentioned earlier. [...] She started her first croissant again on the morning the papers an-announced the wreck of the Lusitania. Dipping it into her coffee, she arranged her newspaper so that it would stay open without her having to deprive her other hand of its function of dipping, and exclaimed with horror, “How awful! It’s more frightful than the most terrible tragedies.” But those drowning people must have seemed to her reduced a thousand-fold, for, while she indulged in these saddening reflections, she was filling her mouth and the expression on her face, induced, one supposes, by the savour of the croissant, precious remedy for her headache, was rather that of placid satisfaction.
--Time regained

Not only that Cottards order sees an unexpected after-life here (see previous entry) is remarkable, rather it is the observation of the padrona's being unable to hold back her satisfaction due to the croissant despite this major catastrophe in the condolence-intensified times of the World War.

But isn't this actually the case? Let's be honest for a minute. Can you avoid having to follow an opposite movement of happiness in your mind even after receiving the most horrible news? I do not think you would have to be seriously ashamed of that. After all, we seem to live in a steady equilibrium of emotions and if something like great, constant happiness does not exist, then why should compassion and sadness have such absolute dimensions? Well, maybe except for in a very depressed universe.

I, for one, have to admit that there are very little things that occupy me sufficiently in order to keep beating a truly good piece of croissant... and maybe we should be very happy about that.

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