Tuesday, 10. March 2009

Bahn nach Balbec

Neulich im Intercity von Augsburg nach München ... eine Collage.

Verehrte Fahrgäste an Gleis 4, bitte steigen Sie ein. Vorsicht an den Türen und bei der Abfahrt des Zuges. Es sind die letzten Seiten der Recherche, die noch vor mit liegen - und die letzten 50, vielleicht 60 Kilometer Bahnfahrt bevor das Semester wieder anfängt und mich mit seinen Zwängen unter sich begräbt.

Denn das Gedächtnis, indem es die Vergangenheit in unveränderter Gestalt in die Gegenwart einführt - so nämlich, wie sie sich in dem Augenblick präsentierte, als sie selber noch Gegenwart war - bringt gerade jene große Dimension der Zeit zum Verschwinden, in der sich das Leben realisiert
-- Die wiedergefundene Zeit, Bd. 7/7, S. 484

Es sind schon eine ganze Anzahl Vergangenheiten, die für mich mit diesem Buch verbunden sind. Da sind die Kastanien im Stuttgarter Schloßgarten, unter denen liegend ich die ersten Seiten von In Swanns Welt einst verschlungen, der Fahrtwind im alten Regionalexpress, der an den Seiten meiner Biblotheksausgabe damals entlangzustreichen gesucht, das Flugzeug nach Kanada, die Münchener Tram ... fast scheint es als sei meine ganz persönliche Recherche eine kleine Geschichte der Fortbewegungsmittel. Und ja, nun dieser Zug.

Augsburg-Hochzoll rauscht vorbei ...


In solchen großen Büchern aber gibt es ganze Partien, die aus Mangel an Zeit im Zustand der Skizze geblieben sind und die zweifellos auch nie fertiggestellt werden können, weil der Plan des Baumeisters zu großartig war. [...] Um aber auf mich selbst zurückzukommen, so dachte ich bescheidener an mein Buch, und es wäre sogar ungenau zu sagen, dass ich dabei an die, die es lesen würden, an meine Leser dachte. Denn sie würden meiner Meinung nach nicht meine Leser sein, sondern die Leser ihrer selbst, da mein Buch nur etwas wie ein Vergrößerungsglas sein würde, ähnlich jenen, die der Optiker in Combray einem Käufer über den Ladentisch reichte - mein Buch, das ihnen ermöglichen würde, in sich selbst zu lesen.
-- Die wiedergefundene Zeit, Bd. 7/7, S. 486f

Reichlich bescheiden spricht er da, der Autor, 20 Seiten vor dem Schluss seines monumentalen Werkes. Was ich durch das Vergrößerungsglas in mir selbst gelesen habe? Eine ganze Menge ...

Der Intercity nimmt Fahrt auf, vorbei an Kissing, Mering, und biegt auf die schnurgerade Strecke nach München ein, sodass ich fast befürchte, den Roman doch nicht zuendelesen zu können.


Wenn die Idee des Todes mir zu jener Zeit, wie man gesehen hat, die Liebe verdüsterte, half mir doch seit langem schon die Erinnerung an die Liebe dazu, den Tod nicht mehr zu fürchten. Ich gelangte zu der Einsicht, dass Sterben nicht etwas Neues, sondern dass ich im Gegenteil von meiner Kindheit an schon viele Male gestorben sei.
-- Die wiedergefundene Zeit, Bd. 7/7, S. 493

Was, traurig wie es auf den ersten Blick scheint, ein sehr schöner Gedanke ist. Victor Hugo sagt: Das Gras muss sprießen und die Kinder müssen sterben. Veränderung heißt Leben. Veränderung heißt auch Tod. Und die Erinnerung setzt beides außer Kraft.


Da erkannte ich mit einemmal, dass, wenn ich noch die Kraft hätte, mein Werk zu vollenden, diese Matinee [...] insofern sie mir am heutigen Tage zugleich die Idee meines Werkes und die Furcht davor eingegeben hatte, sie nicht verwirklichen zu können, wahrscheinlich vor allem in diesem Werk die Gestalt bezeichnen würde, die ich einst in der Kirche von Combray erahnte und die uns gewöhnlich unsichtbar bleibt, die Zeit.
-- Die wiedergefundene Zeit, Bd. 7/7, S. 502f

Kondensierte Zeit, die Proust da wie einen Tautropfen an der Matinee mit den gealterten Gefährten aufnimmt - ich blättere im Moment ein wenig in den Erinnerungen meines Großvaters, der im letzten Jahr seinen 90. Geburtstag gefeiert hat. Das mag ein sehr plakatives Beispiel von kondensierter Zeit sein. Auch dieser Blog und das Gelesenhaben der Recherche ist für mich eines. Der Weg vom Haus meiner Kindheit in die Studentenbude meiner Gegenwart, auf dem ich mich in diesem Moment befinde. Und so weiter. Wir erreichen Pasing ... der letzte Halt.


Ich begriff jetzt, weshalb der Herzog von Guermantes [...] als er sich erhob und stehenbleiben wollte, schwankend und nur mit Mühe sich auf versagenden Beinen hielt [...] und nur zitternd wie ein Blatt sich vorwärtsbewegte auf dem unwegsamen Gipfel seiner dreiundachzig Jahre, als ob die Menschen alle auf lebendigen, unaufhörlich wachsenden, machmal mehr als kirchturmhohen Stelzen hockten, die schließlich das Gehen für sie beschwerlich und gefahrvoll machten, bis sie plötzlich von ihnen herunterfielen. Ich erschrak, weil die meinen bereits so lang waren unter meinen Schritten; es kam mir nicht so vor, als werde ich stark genug sein, noch lange die Vergangenheit bei mir festzuhalten, die nun schon unter mir so weit hinunterreichte. Wenigstens würde ich, wenn mir noch Kraft genug bliebe, um mein Werk zu vollenden, in ihm die Menschen [...] als Wesen beschreiben, die neben dem so beschränkten Anteil an Raum, der für sie ausgespart ist, einen im Gegensatz dazu unermesslich ausgedehnten Platz - da sie ja gleichzeitig wie Riesen, die, in die Tiefe der Jahre getaucht, ganz weit auseinanderliegende Epochen streifen, zwischen die unendlich viele Tage geschoben sind - einnehmen in der ZEIT.
-- Die wiedergefundene Zeit, Bd. 7/7, letzte Seite

Was kann man bei dieser relativistischen, philosophischen Schlusspassage noch sagen? Verlieren Sie nicht die Zeit!

Unser nächster Halt: München Hauptbahnhof. FIN.
The other day on the Intercity train from Augsburg to Munich ... a collage.

Dear passengers on track 4, please enter the train. Caution as the doors close and while the train is leaving. It's the last pages of the Recherche and, at the same time, the last 50, maybe 60, kilometers before the new term starts and I'm once again buried alive in work.


Since memory, by introducing the past into the present without modification, as though it were the present, eliminates precisely that great Time-dimension in accordance with which life is realised.
-- Time Regained

It's been quite a number of 'pasts' which this book has made a connection to for me. I can recall the chestnut trees in the palace garden of Stuttgart, among which I had devoured the first pages of Swann's Way, the head wind on the old regional train, which gently tapped on the pages of my library edition, the plane to Canada, the tramway in Munich ... it's as though my personal Recherche is a history of public transport. And yes, now it's this train.

Passing Augsburg-Hochzoll...


Parts of such great books can be no more than sketched for time presses and perhaps they can never be finished because of the very magnitude of the architect’s design. [...] But to return to myself. I was thinking more modestly about my book and it would not even be true to say that I was thinking of those who would read it as my readers. For, as I have already shown, they would not be my readers, but the readers of themselves, my book being only a sort of magnifying-glass like those offered by the optician of Combray to a purchaser.
-- Time Regained

In quite a humble manner the author speaks, some 20 pages from the final word of his monumental novel. What I read in the magnifying-glass? Many a thing ...

The Intercity takes up some speed, passing Kissing (what a beautiful name!), Mering, and continues straightaway, approaching Munich so as to make me fear I won't be able to finish my reading.


If the idea of death had cast a shadow over love, the memory of love had for long helped me not to fear death. I realised that death is nothing new, ever since my childhood I had been dead numbers of times.
-- Time Regained

What seems sad at a glance is indeed a profoundly beautiful thought. Victor Hugo says: The grass must grow and children die. Change may mean life, but change also means death. And remembrance can suspend both.


In any case, if I had still the strength to accomplish my work, the circumstances, which had to-day in the course of the Princesse de Guermantes’ reception simultaneously given me the idea of it and the fear of not being able to carry it out, would specifically indicate its form of which I had a presentiment formerly in Combray church during a period which had so much influence upon me, a form which, normally, is invisible, the form of Time.
-- Time Regained

Condensed time, which Proust absorbs like a dew-drop hanging from the matinee with his ageing comrades - I'm reading through the Memories my Grandfather wrote on the occasion of his 90th birthday last year. This may be a very striking example of condensed time. This blog as much as my having read the Recherche are similar for me. The journey from the house of my chilhood days to the student digs of my presence, which I'm taking at the moment. And so on. We're arriving in Pasing ... the last stop before central station.



I now understood why the Duc de Guermantes [...] had tottered when he got up and wanted to stand erect [...] and had moved, trembling like a leaf on the hardly approachable summit of his eighty-three years, as though men were perched upon living stilts which keep on growing, reaching the height of church-towers, until walking becomes difficult and dangerous and, at last, they fall. I was terrified that my own were already so high beneath me and I did not think I was strong enough to retain for long a past that went back so far and that I bore within me so painfully. If at least, time enough were alloted to me to accomplish my work, I would not fail to mark it with the seal of Time, the idea of which imposed itself upon me with so much force to-day, and I would therein describe men as [...] occupying a place in Time infinitely more important than the restricted one reserved for them in space, a place, on the, contrary, prolonged immeasurably since, simultaneously touching widely separated years and the distant periods they have lived through—between which so many days have ranged themselves—they stand like giants immersed in TIME.

-- Time Regained, last page

What can you say to this relativistic, philosophical final passage? Take care you don't lose your time!

Our next stop: Munich Central Station. FIN.

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