Tuesday, 10. March 2009

Bahn nach Balbec

Neulich im Intercity von Augsburg nach München ... eine Collage.

Verehrte Fahrgäste an Gleis 4, bitte steigen Sie ein. Vorsicht an den Türen und bei der Abfahrt des Zuges. Es sind die letzten Seiten der Recherche, die noch vor mit liegen - und die letzten 50, vielleicht 60 Kilometer Bahnfahrt bevor das Semester wieder anfängt und mich mit seinen Zwängen unter sich begräbt.

Denn das Gedächtnis, indem es die Vergangenheit in unveränderter Gestalt in die Gegenwart einführt - so nämlich, wie sie sich in dem Augenblick präsentierte, als sie selber noch Gegenwart war - bringt gerade jene große Dimension der Zeit zum Verschwinden, in der sich das Leben realisiert
-- Die wiedergefundene Zeit, Bd. 7/7, S. 484

Es sind schon eine ganze Anzahl Vergangenheiten, die für mich mit diesem Buch verbunden sind. Da sind die Kastanien im Stuttgarter Schloßgarten, unter denen liegend ich die ersten Seiten von In Swanns Welt einst verschlungen, der Fahrtwind im alten Regionalexpress, der an den Seiten meiner Biblotheksausgabe damals entlangzustreichen gesucht, das Flugzeug nach Kanada, die Münchener Tram ... fast scheint es als sei meine ganz persönliche Recherche eine kleine Geschichte der Fortbewegungsmittel. Und ja, nun dieser Zug.

Augsburg-Hochzoll rauscht vorbei ...


In solchen großen Büchern aber gibt es ganze Partien, die aus Mangel an Zeit im Zustand der Skizze geblieben sind und die zweifellos auch nie fertiggestellt werden können, weil der Plan des Baumeisters zu großartig war. [...] Um aber auf mich selbst zurückzukommen, so dachte ich bescheidener an mein Buch, und es wäre sogar ungenau zu sagen, dass ich dabei an die, die es lesen würden, an meine Leser dachte. Denn sie würden meiner Meinung nach nicht meine Leser sein, sondern die Leser ihrer selbst, da mein Buch nur etwas wie ein Vergrößerungsglas sein würde, ähnlich jenen, die der Optiker in Combray einem Käufer über den Ladentisch reichte - mein Buch, das ihnen ermöglichen würde, in sich selbst zu lesen.
-- Die wiedergefundene Zeit, Bd. 7/7, S. 486f

Reichlich bescheiden spricht er da, der Autor, 20 Seiten vor dem Schluss seines monumentalen Werkes. Was ich durch das Vergrößerungsglas in mir selbst gelesen habe? Eine ganze Menge ...

Der Intercity nimmt Fahrt auf, vorbei an Kissing, Mering, und biegt auf die schnurgerade Strecke nach München ein, sodass ich fast befürchte, den Roman doch nicht zuendelesen zu können.


Wenn die Idee des Todes mir zu jener Zeit, wie man gesehen hat, die Liebe verdüsterte, half mir doch seit langem schon die Erinnerung an die Liebe dazu, den Tod nicht mehr zu fürchten. Ich gelangte zu der Einsicht, dass Sterben nicht etwas Neues, sondern dass ich im Gegenteil von meiner Kindheit an schon viele Male gestorben sei.
-- Die wiedergefundene Zeit, Bd. 7/7, S. 493

Was, traurig wie es auf den ersten Blick scheint, ein sehr schöner Gedanke ist. Victor Hugo sagt: Das Gras muss sprießen und die Kinder müssen sterben. Veränderung heißt Leben. Veränderung heißt auch Tod. Und die Erinnerung setzt beides außer Kraft.


Da erkannte ich mit einemmal, dass, wenn ich noch die Kraft hätte, mein Werk zu vollenden, diese Matinee [...] insofern sie mir am heutigen Tage zugleich die Idee meines Werkes und die Furcht davor eingegeben hatte, sie nicht verwirklichen zu können, wahrscheinlich vor allem in diesem Werk die Gestalt bezeichnen würde, die ich einst in der Kirche von Combray erahnte und die uns gewöhnlich unsichtbar bleibt, die Zeit.
-- Die wiedergefundene Zeit, Bd. 7/7, S. 502f

Kondensierte Zeit, die Proust da wie einen Tautropfen an der Matinee mit den gealterten Gefährten aufnimmt - ich blättere im Moment ein wenig in den Erinnerungen meines Großvaters, der im letzten Jahr seinen 90. Geburtstag gefeiert hat. Das mag ein sehr plakatives Beispiel von kondensierter Zeit sein. Auch dieser Blog und das Gelesenhaben der Recherche ist für mich eines. Der Weg vom Haus meiner Kindheit in die Studentenbude meiner Gegenwart, auf dem ich mich in diesem Moment befinde. Und so weiter. Wir erreichen Pasing ... der letzte Halt.


Ich begriff jetzt, weshalb der Herzog von Guermantes [...] als er sich erhob und stehenbleiben wollte, schwankend und nur mit Mühe sich auf versagenden Beinen hielt [...] und nur zitternd wie ein Blatt sich vorwärtsbewegte auf dem unwegsamen Gipfel seiner dreiundachzig Jahre, als ob die Menschen alle auf lebendigen, unaufhörlich wachsenden, machmal mehr als kirchturmhohen Stelzen hockten, die schließlich das Gehen für sie beschwerlich und gefahrvoll machten, bis sie plötzlich von ihnen herunterfielen. Ich erschrak, weil die meinen bereits so lang waren unter meinen Schritten; es kam mir nicht so vor, als werde ich stark genug sein, noch lange die Vergangenheit bei mir festzuhalten, die nun schon unter mir so weit hinunterreichte. Wenigstens würde ich, wenn mir noch Kraft genug bliebe, um mein Werk zu vollenden, in ihm die Menschen [...] als Wesen beschreiben, die neben dem so beschränkten Anteil an Raum, der für sie ausgespart ist, einen im Gegensatz dazu unermesslich ausgedehnten Platz - da sie ja gleichzeitig wie Riesen, die, in die Tiefe der Jahre getaucht, ganz weit auseinanderliegende Epochen streifen, zwischen die unendlich viele Tage geschoben sind - einnehmen in der ZEIT.
-- Die wiedergefundene Zeit, Bd. 7/7, letzte Seite

Was kann man bei dieser relativistischen, philosophischen Schlusspassage noch sagen? Verlieren Sie nicht die Zeit!

Unser nächster Halt: München Hauptbahnhof. FIN.
The other day on the Intercity train from Augsburg to Munich ... a collage.

Dear passengers on track 4, please enter the train. Caution as the doors close and while the train is leaving. It's the last pages of the Recherche and, at the same time, the last 50, maybe 60, kilometers before the new term starts and I'm once again buried alive in work.


Since memory, by introducing the past into the present without modification, as though it were the present, eliminates precisely that great Time-dimension in accordance with which life is realised.
-- Time Regained

It's been quite a number of 'pasts' which this book has made a connection to for me. I can recall the chestnut trees in the palace garden of Stuttgart, among which I had devoured the first pages of Swann's Way, the head wind on the old regional train, which gently tapped on the pages of my library edition, the plane to Canada, the tramway in Munich ... it's as though my personal Recherche is a history of public transport. And yes, now it's this train.

Passing Augsburg-Hochzoll...


Parts of such great books can be no more than sketched for time presses and perhaps they can never be finished because of the very magnitude of the architect’s design. [...] But to return to myself. I was thinking more modestly about my book and it would not even be true to say that I was thinking of those who would read it as my readers. For, as I have already shown, they would not be my readers, but the readers of themselves, my book being only a sort of magnifying-glass like those offered by the optician of Combray to a purchaser.
-- Time Regained

In quite a humble manner the author speaks, some 20 pages from the final word of his monumental novel. What I read in the magnifying-glass? Many a thing ...

The Intercity takes up some speed, passing Kissing (what a beautiful name!), Mering, and continues straightaway, approaching Munich so as to make me fear I won't be able to finish my reading.


If the idea of death had cast a shadow over love, the memory of love had for long helped me not to fear death. I realised that death is nothing new, ever since my childhood I had been dead numbers of times.
-- Time Regained

What seems sad at a glance is indeed a profoundly beautiful thought. Victor Hugo says: The grass must grow and children die. Change may mean life, but change also means death. And remembrance can suspend both.


In any case, if I had still the strength to accomplish my work, the circumstances, which had to-day in the course of the Princesse de Guermantes’ reception simultaneously given me the idea of it and the fear of not being able to carry it out, would specifically indicate its form of which I had a presentiment formerly in Combray church during a period which had so much influence upon me, a form which, normally, is invisible, the form of Time.
-- Time Regained

Condensed time, which Proust absorbs like a dew-drop hanging from the matinee with his ageing comrades - I'm reading through the Memories my Grandfather wrote on the occasion of his 90th birthday last year. This may be a very striking example of condensed time. This blog as much as my having read the Recherche are similar for me. The journey from the house of my chilhood days to the student digs of my presence, which I'm taking at the moment. And so on. We're arriving in Pasing ... the last stop before central station.



I now understood why the Duc de Guermantes [...] had tottered when he got up and wanted to stand erect [...] and had moved, trembling like a leaf on the hardly approachable summit of his eighty-three years, as though men were perched upon living stilts which keep on growing, reaching the height of church-towers, until walking becomes difficult and dangerous and, at last, they fall. I was terrified that my own were already so high beneath me and I did not think I was strong enough to retain for long a past that went back so far and that I bore within me so painfully. If at least, time enough were alloted to me to accomplish my work, I would not fail to mark it with the seal of Time, the idea of which imposed itself upon me with so much force to-day, and I would therein describe men as [...] occupying a place in Time infinitely more important than the restricted one reserved for them in space, a place, on the, contrary, prolonged immeasurably since, simultaneously touching widely separated years and the distant periods they have lived through—between which so many days have ranged themselves—they stand like giants immersed in TIME.

-- Time Regained, last page

What can you say to this relativistic, philosophical final passage? Take care you don't lose your time!

Our next stop: Munich Central Station. FIN.

Wednesday, 29. October 2008

Everything's connected

Ich glaube ich bring's nicht fertig -- die letzten Seiten der Recherche sind zu viel für einen armen kleinen überbeschäftigten Blogger. Dass sie nicht zu viel waren für Proust, das ewig leidende Genie, der sie förmlich mit seinem letzten Lebenshauch zu Papier brachte und alle Fäden verband: unglaublich.

Heute einmal eine kleine elektrotechnische Perspektive auf eine der komprimiertesten Stellen der sonst ganz decomprimé (um nicht zu sagen: de Cambremer) daherkommenden Recherche. Doch zuerst der Ausschnitt:

Das Staunen über die Worte Gilbertes und das Vergnügen, das sie mir machten, wurde sehr schnell, während Madame de Saint-Loup sich nach einem anderen Salon hin entfernte, durch die Idee einer vergangenen Zeit ersetzt, die auch sie mir auf ihre Weise nahelegte, ja - ohne dass ich sie bisher gesehen hatte - sogar Madmoiselle de Saint-Loup. War sie nicht übrigens wie manche Menschen dem ähnlich, was in Wäldern die Markierungen an Kreuzwegen sind, an denen - wie auch in unserem Leben - Wege, die von den verschiedensten Punkten herkommen, sich vereinigen? Sie waren zahlreich für mich, die Wege, die bei Madmoiselle de Saint-Loup zusammentrafen oder von ihr sich strahlenförmig erstreckten. Vor allem aber mündeten bei ihr die verschiedensten Richtungen, nach denen ich so viele Spaziergänge gemacht und Träume entsendet hatte - durch ihren Vater Robert de Saint-Loup die Richtung Guermantes, durch Gilberte, ihre Mutter, die Richtung Méséglise, die in Swanns Welt geführt hatte. Die eine geleitete mich durch die Mutter des jungen Mädchens über die Champs-Elysées hinweg bis zu Swann, zu meinen Abenden in Combray, den Spaziergängen nach der Seite von Méséglise; die andere über ihren Vater zu meinen Nachmittagen in Balbec, wo ich ihn wieder am besonnten Meer stehen sah. Schon zwischen diesen beiden Welten entstanden Querverbindungen, denn jenes wirkliche Balbec, dem ich ja die Bekanntschaft mit Saint-Loup verdanke, hatte ich ja größtenteils wegen der Dinge, die Swann mir über Kirchen, vor allem über die "persische" Kirche gesagt hatte, aufsuchen wollen, und andererseits gelangte ich durch Robert, den Neffen der Herzogin von Guermantes, wiederum nach Combray, aber diesmal auf die nach Guermantes zu gerichtete Seite. Aber auch zu vielen anderen Punkten meines Lebens noch führte mich Mademoiselle de Saint-Loup, zu der Dame in Rosa, die ihre Großmutter war und die ich bei meinem Großonkel gesehen hatte. Hier ergab sich eine neue Transversale, denn der Kammerdiener dieses Großonkels, der mir an jenem Tage die Tür geöffnet und später durch das Geschenk einer Photographie ermöglicht hatte, die Dame in Rosa zu identifizieren, war der Vater des jungen Mannes, den nicht nur Monsieur de Charlus, sondern auch der Vater von Mademoiselle de Saint-Loup geliebt, um dessentwillen er ihre Mutter unglücklich gemacht hatte. Und hatte nicht der Großvater von Mademoiselle de Saint-Loup, nämlich Swann, zu mir als erster von der Musik Vinteuils gesprochen, ebenso wie Gilberte als erste von Albertine? Im Gespräch über die Kompositionen Vinteuils aber mit Albertine hatte ich entdeckt, wer ihre engste Freundin war, und mit ihr jenes Leben begonnen, das zu ihrem Tode geführt und mir so viele Schmerzen bereitet hatte. Der Vater von Mademoiselle de Saint-Loup wiederum war derjenige gewesen, der sich auf den Weg gemacht hatte, um Albertine womöglich zur Rückkehr zu bewegen. Auch mein ganzes Leben in der Gesellschaft war auf diese Weise zustande gekommen, sei es in Paris im Salon der Swanns oder der Guermantes, sei es ganz am anderen Ende bei den Verdurins, so dass neben die beiden Seiten, nach denen sich Combray erstreckte, und neben die Champs-Elysées auch die schöne Terrasse von La Raspelière in gleiche Linie rückte. [...] Und mochten auch die Verdurins sich noch so sehr am anderen Ende befinden, so hingen sie doch mit Odette durch deren Vergangenheit, mit Robert de Saint-Loup aber durch Charlie zusammen; und welche Rollen hatte nicht bei ihnen die Musik Vinteuils gespielt! Endlich hatte Swann die Schwester jenes Legrandin geliebt, der Monsieur de Charlus gekannt hatte, dessen Mündel wiederum der junge Cambremer heiratete. Gewiß, wenn es sich nur um unsere Herzen handelt, so hat der Dichter recht gehabt, von jenen "geheimnisvollen Fäden" zu sprechen, die das Leben zerreißt. Aber wahrer noch ist, dass es unaufhörlich zwischen den Wesen, zwischen den Ereignissen neue Fäden spinnt und untereinanderwirrt, dass es sie verdoppelt, um das Gewebe zu stärken, so dass zwischen dem geringsten Punkt unserer Vergangenheit und allen anderen ein reiches Netz von Erinnerungen uns nur die Wahl der Verbindungswege lässt.
-- Die wiedergefundene Zeit, Bd. 7/7, S. 481ff


Oder, noch weiter "vereinfacht":

Und wir bewegen uns weiter im Eiltempo auf das große Finale zu ...
I don't think I can possibly make it -- the last pages of the Recherche are by all means to much for a poor, small blogger. Unbelievable enough they weren't too much for Proust, the ever-suffering genious who wrote them and one last time pulled all the strings literally with his last breath.

So today you get an electrician's perspective on one of the very compressed passages of a novel so decomprimé (not to say: de Cambremer) at other times. But first here comes the passage:

The surprise and pleasure caused me by Gilberte’s words were quickly replaced while Mme de Saint-Loup disappeared into another room, by the idea of past Time which Mlle de Saint-Loup had brought back to me in her particular way without my even having seen her. In common with most human beings, was she not like the centre of cross-roads in a forest, the point where roads converge from many directions? Those which ended in Mlle de Saint-Loup were many and branched out from every side of her. First of all, the two great sides where I had walked so often and dreamt so many dreams, came to an end in her—through her father, Robert de Saint-Loup, the Guermantes side and through Gilberte, her mother, the side of Méséglise which was Swann’s side. One, through the mother of the young girl and the Champs Elysées, led me to Swann, to my evenings at Combray, to the side of Méséglise, the other, through her father, to my afternoons at Balbec where I saw him again near the glistening sea. Transversal roads already linked those two main roads together. For through the real Balbec where I had known Saint-Loup and wanted to go, chiefly because of what Swann had told me about its churches, especially about the Persian church and again through Robert de Saint-Loup, nephew of the Duchesse de Guermantes I reunited Combray to the Guermantes’ side. But Mlle de Saint-Loup led back to many other points of my life, to the lady in pink who was her grandmother and whom I had seen at my great-uncle’s house. Here there was a new cross-road, for my great-uncle’s footman who had announced me that day and who, by the gift of a photograph, had enabled me to identify the lady in pink, was the uncle of the young man whom not only M. de Charlus but also Mlle de Saint-Loup’s father had loved and on whose account her mother had been made unhappy. And was it not the grandfather of Mlle de Saint-Loup, Swann, who first told me about Vinteuil’s music as Gilberte had first told me about Albertine? And it was through speaking to Albertine about Vinteuil’s music that I had discovered who her intimate girl-friend was and had started that life with her which had led to her death and to my bitter sorrows. And it was again Mlle de Saint-Loup’s father who had tried to bring back Albertine to me. And I saw again all my life in society, whether at Paris in the drawing-rooms of the Swanns and the Guermantes’, or in contrast, at the Verdurins’ at Balbec, uniting the two Combray sides with the Champs Elysées and the beautiful terraces of the Raspelière. Moreover, contrast them as one might, the Verdurins were linked to Odette through her past, with Robert de Saint-Loup through Charlie and how great a part had Vinteuil’s music played in their home! Finally, Swann had loved the sister of Legrandin and the latter had known M. de Charlus whose ward young Cambremer had married. Certainly, if only our hearts were in question, the poet was right when he spoke of the mysterious threads which life breaks. But it is still truer that life is ceaselessly weaving them between beings, between events, that it crosses those threads, that it doubles them to thicken the woof with such industry that between the smallest point in our past and all the rest, the store of memories is so rich that only the choice of communications remains.
- Time Regained


Or, to put it even more simply - just see the diagram above.

And still we're rushing towards the grand final ...

Sunday, 6. January 2008

Auftauchen des reitenden Boten

Marcel denkt nach auf dem Weg zur Soiree und alles scheint ihm sinnlos geworden zu sein - die Literatur, seine geistigen Bemühungen, alle Freuden, kurzum: das Leben. Da... (und ich verspreche Ihnen, Sie werden es nicht bereuen, den folgenden längeren Abschnitt zu lesen):

In dem Augenblick aber, in dem uns alles verloren scheint, erreicht uns zuweilen die Stimme, die uns retten kann; man hat an alle Pforten geklopft, die auf gar nichts führen, vor der einzigen aber, durch die man eintreten kann, und die man vergeblich hundert Jahre lang hätte suchen können, steht man, ohne es zu wissen, und sie tut sich auf.

Als ich die traurigen Gedanken, von denen ich eben sprach, noch in mir bewegte, war ich in den Hof des Guermantesschen Palais eingetreten und hatte in meiner Zerstreuung nicht bemerkt, dass ein Wagen sich näherte; beim Anruf des Chauffeurs hatte ich nur gerade noch Zeit, rasch auf die Seite zu springen. Ich wich so weit zurück, dass ich unwillkürlich auf die schlecht behauenen Pflastersteine trat, hinter denen eine Remise lag. In dem Augenblick aber, als ich wieder Halt fand und meinen Fuß auf einen Stein setzte, der etwas höher war als der vorherige, schwand meine ganze Mutlosigkeit vor der gleichen Beseligung dahin, die mir zu verschiedenen Epochen meines Lebens einmal der Anblick von Bäumen geschenkt hatte, die ich auf einer Wagenfahrt in der Nähe von Balbec wiederzuerkennen gemeint hatte, ein andermal der Anblick der Kirchtürme von Martinville oder der Geschmack einer Madeleine, die in einen Teeaufguss eingetaucht war [...]. Wie in dem Augenblick, in dem ich die Madeleine gekostet hatte, waren alle Sorgen um meine Zukunft, alle Zweifel meines Verstandes zerstreut. Die Bedenken, die mich eben noch wegen der Realität meiner literarischen Begabung, ja der Literatur selbst befallen hatten, waren wie durch Zauberschlag behoben. Ohne dass ich irgendeine neue Überlegung angestellt oder irgendein entscheidendes Argument gefunden hätte, hatten die soeben noch unlösbaren Schwierigkeiten alles Gewicht verloren. Diesmal aber war ich fest entschlossen, mich nicht damit abzufinden, dass ich nie das "Weshalb" kennen würde, wie ich es an jenem Tag getan hatte, an dem ich die in Tee getauchte Madeleine auf der Zunge verspürte. Die Beseligung, die ich eben empfunden hatte, war tatsächlich ganz die gleiche wie diejenige, die ich beim Geschmack der Madeleine gefühlt und deren tiefe Gründe zu suchen ich damals aufgeschoben hatte. Der auf das Gegenständliche beschränkte Unterschied lag in den Bildern, die dadurch heraufbeschworen wurden; ein tiefes Azurblau berauschte meine Augen, Eindrücke von Kühle, von blendendem Licht wirbelten um mich her, und in meinem Verlangen, sie zu erfassen, ohne dass ich deswegen eher mich zu rühren wagte als damals, da ich den Geschmack der Madeleine wahrnahm und versuchte, bis zu mir vordringen zu lassen, was er mir ins Gedächtnis rief, blieb ich ohne Rücksicht darauf, ob ich die zahlreich versammelte Schar der Chauffeure zum Lachen reizte, in schwankender Haltung stehen, wie ich es eben schon getan hatte, während mein einer Fuß auf dem hohen Pflasterstein, der andere auf dem niedrigen ruhte. Sooft ich nur rein materiell dieses gleiche Auf- und Abtreten vollzog, blieb es ergebnislos für mich; sobald es mir aber gelang, die Matinee bei den Guermantes zu vergessen und wiederzufinden, was ich empfunden hatte, als ich in dieser Weise meine Füße aufsetzte, war mir von neuem die undeutlich aufblendende Vision ganz nahe und schien zu mir zu sagen: "Hasche mich, wenn du die Kraft in dir hast, und versuche das Rätsel des Glücks, das ich dir aufgebe, zu lösen." Fast gleich darauf erkannte ich sie: er war Venedig, [...] eine Empfindung, wie ich sie einst auf zwei ungleichen Bodenplatten im Baptisterium von San Marco gehabt hatte.

-- Die wiedergefundene Zeit, Bd. 3/3, S. 3954ff

Falls Sie die vorangegangenen 3944 Seiten tatsächlich gelesen haben, und falls nicht kann ich das Ihnen an dieser Stelle nur nochmals wärmstens empfehlen, dann versetzt Sie diese Passage und das meiste des Folgenden vermutlich ebenso in eine kaum in Worte zu fassende Hochstimmung. Ernsthaft, das ist hier kein Feuilleton-Blah.

In diesem Moment, da ich sie abtippe, kann ich schon nicht mehr ganz nachvollziehen, wie oft ich diese Passage nun schon gelesen, vor mich hingesprochen, vorgelesen, durchblättert habe. Und das Gefühl kommt immer wieder auf. Ich würde gerne noch länger zitieren, am besten die nächsten zehn Seiten oder so, aber Sie wissen schon, Copyright; und ich bin ja auch keine Marathon-Schreibkraft; und ich wüsste auch ehrlich gesagt bislang gar noch nicht recht, wo aufhören. Ich schätze, Sie bekommen bald noch mehr zu lesen, wenn Marcel seine Empfindungen näher untersucht.

Es ist schon wahr, die reitenden Boten des Königs kommen sehr selten. Aber dieser hier, das können Sie mir glauben, hat es in sich.
Marcel thinks about life, the universe and everything on his way to the soiree, end all of the above seems to be devoid of sense - literature, his own attempts to intellectual achievement, pleasures, in short: life is senseless. Until... (and I promise, you won't regret reading the following lengthy passage):

But sometimes illumination comes to our rescue at the very moment when all seems lost; we have knocked at every door and they open on nothing until, at last, we stumble unconsciously against the only one through which we can enter the kingdom we have sought in vain a hundred years—and it opens.

Reviewing the painful reflections of which I have just been speaking, I had entered the courtyard of the Guermantes’ mansion and in my distraction I had not noticed an approaching carriage; at the call of the link-man I had barely time to draw quickly to one side, and in stepping backwards I stumbled against some unevenly placed paving stones behind which there was a coach-house. As I recovered myself, one of my feet stepped on a flagstone lower than the one next it. In that instant all my discouragement disappeared and I was possessed by the same felicity which at different moments of my life had given me the view of trees which seemed familiar to me during the drive round Balbec, the view of the belfries of Martinville, the savour of the madeleine dipped in my tea and so many other sensations of which I have spoken [...]. As at the moment when I tasted the madeleine, all my apprehensions about the future, all my intellectual doubts, were dissipated. Those doubts which had assailed me just before, regarding the reality of my literary gifts and even regarding the reality of literature itself were dispersed as though by magic. This time I vowed that I should not resign myself to ignoring why, without any fresh reasoning, without any definite hypothesis, the insoluble difficulties of the previous instant had lost all importance as was the case when I tasted the madeleine. The felicity which I now experienced was undoubtedly the same as that I felt when I ate the madeleine, the cause of which I had then postponed seeking. There was a purely material difference in the images evoked. A deep azure intoxicated my eyes, a feeling of freshness, of dazzling light enveloped me and in my desire to capture the sensation, just as I had not dared to move when I tasted the madeleine because of trying to conjure back that of which it reminded me, I stood, doubtless an object of ridicule to the link-men, repeating the movement of a moment since, one foot upon the higher flagstone, the other on the lower one. Merely repeating the movement was useless; but if, oblivious of the Guermantes’ reception, I succeeded in recapturing the sensation which accompanied the movement, again the intoxicating and elusive vision softly pervaded me as though it said “Grasp me as I float by you, if you can, and try to solve the enigma of happiness I offer you.” And then, all at once, I recognised that Venice which my descriptive efforts and pretended snapshots of memory had failed to recall; the sensation I had once felt on two uneven slabs in the Baptistry of St. Mark had been given back to me and was linked with all the other sensations of that and other days which had lingered expectant in their place among the series of forgotten years from which a sudden chance had imperiously called them forth.

-- Time regained

In case you have read the previous 3954 pages (and in case you haven't I can only recommend it as recommend can), this passage and most of what follows will probably have put you in a kind of elation that's hard to frame in words. Seriously, this is no feuilleton-speak.

At this very moment that I'm typing the passage into my computer (yes, Germans are not yet endowed with a public domain translation) I can't even remember how often I have read, re-read, read aloud or scanned through these pages. And the feeling keeps on coming again and again. I would love to quote even longer, possibly the next ten pages or so, but you know, this a only a blog and not an e-book after all. Plus I wouldn't yet know where to stop. So I guess you'll have more to read in the near future, when Marcel analyses his sensation.

Brecht is certainly right, messengers on horsebacks are rare, too rare, but this one, I promise, beats them all.

Saturday, 5. January 2008

Schlüsselstelle

Als ich an der Ecke der Rue Royale anlangte, an der früher unter freiem Himmel der Händler mit den bei Francoise so beliebten Photographien gestanden hatte, schien es mir, als könne der Wagen unter dem Zwang von hunderten in gleicher Weise vorgenommenen früheren Wendungen gar nichts anderes tun, als von selbst um die Ecke zu biegen. Ich durchmaß nicht die gleichen Straßen wie die Spaziergänger, die an diesem Tage sich im Freien ergingen, sondern eine gleitende, traurige, weiche Vergangenheit. Diese bestand im Übrigen aus so vielen verschiedenen Vergangenheiten, dass es schwierig für mich war, den Grund meiner Schwermut zu begreifen [...].
-- Die wiedergefundene Zeit, Bd. 3/3, S. 3933

Marcel, wenn wir ihn so nennen mögen, ist gerade zum zweiten Male aus dem Sanatorium nach Paris zurückgekehrt, da er hier auf der Suche nach einer verlorenen Zeit die Straßen durchschreitet.

Sind Sie schon einmal durch einen Ort gegangen (bei mir war es ein ziemliches Kuhdorf, aber eine Stadt tut's bestimmt auch), aus dem Sie schon seit vielen Jahren fortgezogen sind? Es ist vielleicht nicht ganz richtig, die Erinnerungen, die sich in einem dabei auftun, unwillkürlich zu nennen, denn wir sind ja schließlich doch recht willkürlich in den Ort der Vergangenheit zurückgekehrt. Aber diese Wiederauferstehung einer vergangenen Gefühlswelt, die wir dabei vielleicht einmal für Momente erleben dürfen, ist wohl genau das, was unser Autor unter einer solchen unwillkürlichen Erinnerung versteht.

Und ob sie's glauben oder nicht, als ich an meiner ehemaligen Wohnung vorbeilief, steckte in der Tür der Schlüssel...
When I reached the corner of the rue Royale where formerly an open-air street-seller used to display the photographs beloved of Françoise, it seemed to me that the carriage accustomed in the course of years to turning there hundreds of times was compelled to turn of itself. I was not traversing the same streets as those who were passing by, I was gliding through a sweet and melancholy past composed of so many different pasts that it was difficult for me to identify the cause of my melancholy.
-- Time regained

Marcel, if that's how we are to call him, has returned from the sanatorium for the second time and is wandering through the streets of Paris in search of a time lost.

Have you ever tried walking through a village (in my case, it was a real Podunk, but I guess a larger city does the trick just as well), from which you had moved away many years ago? Maybe it's not quite correct to call the memories that you get while doing that involuntary, because, after all, we have come back to the place quite voluntarily, actually. But this resurrection of a past emotional experience, which might occur to us for a moment, is probably exacly what the author means when he speaks of involuntary memories.

And believe it or not, when I walked past the appartment I had formerly lived in, the key was in the lock...

Wednesday, 2. January 2008

Larivière

In diesem Buche, in dem keine einzige Tatsache berichtet wird, die nicht erfunden ist, in dem es keine einzige Gestalt gibt, hinter der sich eine wirkliche Person verbirgt, in dem alles und jedes je nach Maßgabe dessen, was ich demonstrieren will, von mir erdacht worden ist, muss ich zum Preise meines Landes sagen, dass die Millionärsverwandten unserer Françoise, die ihre Zurückgezogenheit aufgegeben hatten, um ihrer schutzlosen Nichte zu helfen, die einzigen Personen sind, die tatsächlich existieren. Überzeugt davon, dass sie in ihrer Bescheidenheit nicht daran Anstoß nehmen werden, und zwar aus dem Grunde, weil sie dieses Buch niemals lesen werden, zeichne ich hier mit einem kindlichen Vergnügen und von tiefer Rührung bewegt, da ich ja nicht die Namen der vielen anderen zitieren kann, die ebenso gehandelt haben und dank denen Frankreich weiterexistiert, ihren wirklichen Namen auf, den übrigens echt französischen Namen Larivière.
-- Die wiedergefundene Zeit, Bd. 3/3, S. 3915f

Muss schon ein ganz angenehmes Gefühl sein, so in dem Roman schlechthin genannt zu werden, und dann auch noch mit so überschwänglichem Lob. Die Larivières hatten als Caféhausbesitzer ihr Vermögen gemacht und sich dann, millionenschwer, zur Ruhe gesetzt. Ihr Neffe hatte, wohl vom großen Erfolg seiner Verwandten ermutigt, mit seiner Ehefrau ebenfalls ein kleines Caféhaus eröffnet - bis der Erste Weltkrieg ihm von der Kaffeemühle in die Schützengräben trieb, wo er schließlich fiel. Was sollte also seine junge Frau nun tun?

Nun, zum Glück war ihr die Unterstützung ihrer angeheirateten Verwandten sicher, die, ungeachtet ihres fortgeschrittenen Alters und ihrer gesellschaftlichen Stellung, über drei Jahre unbezahlt in dem kleinen Caféhaus als Tellerwäscher (oder besser: Tassenwäscher) aushalfen.

Zumindest einen Eintrag in einem Blog des frühen 21. Jahrhunderts wäre das ja sicher wert gewesen. Ansonsten, falls Sie gerade an dem neuen Roman schlechthin schreiben, nähme ich Angebote als Aushilfe in Ihrem Caféhaus, insbesondere per e-mail und in Verbindung mit einem sicheren Millionenvermögen, gerne entgegen.

Und wenige Zeilen später, das sei hier noch etwas unpietistisch angefügt, wird uns die Nachricht vom Tode unseres langjährigen Freundes Robert de Saint-Loup bekanntgegeben.

Er war sicher sehr schön gewesen in seinen letzten Stunden. Er, der in diesem Leben [...] immer den Schwung des Angriffs in sich zu tragen schien, war endlich wirklich zum Angriff übergegangen.
In this book in which there is not a single event which is not fictitious, in which there is not a single personage "a clef", where I have invented everything to suit the requirements of my presentation, I must, in homage to my country, mention as personages who did exist in real life, these millionaire relations of Françoise who left their retirement to help their bereaved niece. And, persuaded that their modesty will not be offended for the excellent reason that they will never read this book, it is with childlike pleasure and deeply moved, that, unable to give the names of so many others who acted similarly and, thanks to whom France has survived, I here transcribe their name, a very French one, Larivière.
-- Time regained

Must be a jolly good feeling, to be reffered to in the novel per se, and even with this kind of appraisal. The Larivières had made a fortune as coffeehouse owners and then, with many millions, retired. Their nephew had, possibly encouraged by the success of his relatives, also opened a small coffeehouse with his wife - until the outbreak of the First World War lead him from the coffee grinder to the trench, where he eventually died. So what was his young wife to do?

Well, fortunately she could take her husband's relatives' support for granted, who, despite their advanced age and social position and without being paid, helped her, working as dishwashers (or rather: cup-washers) in the little coffeehouse for three years.

At least an entry in a blog in early 21st century that would certainly have been worth. Otherwise, in case you're currently working on the new novel per se, I would be happy to accept job offers in your coffehouse, especially via e-mail and in connection with a nice and safe fortune.

And shortly after this episode, it should be added despite its being rather sad, we are informed of the death of our old friend Robert de Saint-Loup.

He must have been very beautiful in those last hours, he who in this life had seemed always [...] to contain within himself the dash of a charge and to disguise smilingly the indomitable will-power centred in his triangle-shaped head when he charged for the last time.

Tuesday, 1. January 2008

Love is blind

Wir befinden uns unter den Gästen aus Jupiens Hotel, dem manifestierten Sündenpfuhl, die sich während des Bombenalarms im Weltkrieg in den Untergrund der Pariser U-Bahn zurückziehen, wo in der Dunkelheit ihre Spiele nicht weniger interessant zu sein scheinen...

Findet man aber Verständnis, so erweckt in uns die unmittelbare Antwort des Körpers, der sich nicht zurückzieht, sondern annähert, die Vorstellung, dass die, an die wir uns schweigend wenden, vorurteilsfrei und eher lasterhaften Neigungen unterworfen sind, eine Vorstellung, die eine Vermehrung des Glückes bedeutet, ohne weiteres die Frucht genießen zu können, ohne sie zuvor mit den Augen zu begehren und um Erlaubnis zu bitten. Die Dunkelheit dauert indessen an.
-- Die wiedergefundene Zeit, Bd. 3/3, S. 3900

Verglichen mit dem harmlos-langweiligen MTV Love is blind oder den weniger auf Gegenseitigkeit beruhenden Grabschern in der Tokioter U-Bahn ist das, was die Herrschaften aus Jupiens eigens für Charlus und seine Neigungen eingerichtetem Hotel in der Pariser Metro und auch sonst so treiben aber sicherlich eine weniger stille Beschäftigung. Weiter enthalte ich mich jeden Kommentars...
We're among the guests of Jupien's hotel, the manifest Gomorrah, retreating to the Métro passages of Paris, way down, where the darkness doesn't seem to make their little games any less interesting...

Then there is the excuse of the darkness itself and of the mistakes it engenders if a bad reception is met with, but if on the contrary, there is the immediate response of a body which, instead of withdrawing, comes closer, the inference that the woman or the man approached is equally licentious and vicious, adds the additional thrill of being able to bite into the fruit without lusting after it with the eyes and without asking permission. And still the darkness continued.
-- Time regained

Compared to the harmless-boring MTV Love is blind or the less mutual Tokyo subway groopers what the gentlemen from the hotel Jupien has opened especially for Charlus and his tendencies are doing here in the Metro or elsewhere, is certainly a less silent business. And I do refrain from any further comment...

Monday, 31. December 2007

Deadline

Da meine Trägheit mir die Gewohnheit mitgeteilt hatte, meine Arbeit immer von einem Tag auf den folgenden zu verschieben, stellte ich mir zweifellos vor, es könne mit dem Tode ebenso sein. Warum sollte man Angst vor einer Kanone haben, die, wie man überzeugt ist, an diesem gleichen Tage einen nicht treffen wird?
--Die wiedergefundene Zeit, Bd.3/3, S.3853

Ich weiß nicht, wie es mit Ihnen ist, aber ich bin auch so ein großer Hinausschieber. Und jetzt, wo das Jahr zu Ende geht und ich Ihnen natürlich allen einen guten Rutsch uns so weiter und so fort wünsche, sollte man sich vielleicht vornehmen, nicht wahr, mit dieser unguten Angewohnheit doch einmal aufzuräumen.

Andererseits, es ist ja nicht nur der Tod, den das Aufschieben für den einzelnen Tag erträglich macht. Mit der Arbeit ist es doch oft nicht viel anders. Wenn ich mir so überlege, was ich eigentlich alles machen müsste, gemacht haben müsste, machen haben müssen werde... eigentlich ist das ja nur mit einer gesunden Portion Aufschieberei zu überstehen.

Ich schlage also folgenden Kompromiss vor: wir nehmen uns einfach vor, zum nächsten Jahreswechsel dem Aufschieben abzuschwören.
Having got into the habit, through idleness, of postponing my work from day to day, I doubtless supposed death might deal in the same way with me. How could one be afraid of a shell which you are convinced will not strike you that day?
--Time regained

Now I don't know about you, but I also abandon myself to procrastination time and again. And now, that the year comes to an end and I of course wish you all a Happy New Year and so on and so forth it might seem fair to come to the New Year's resolution of, well, stopping that habit once and for all.

On the other hand, it's not only death (and death would already be bad enough) witch is made bearable on the individual day by our constant procrastination tactics. Work, I suppose, is not so much a different matter here. If I only start to think about what I actually should do, should have done, or will have had to have done (if this is a correct tense) some day... in fact, procrastination might be the only means of ever being able to bear that burden.

So what I propose is the following compromise: we all decide to make stopping procrastination our next year's New Year's resolution...

Thursday, 27. December 2007

Alles ist relativ

Da Madame Verdurin an Migräne litt, weil sie morgens keine Hörnchen mehr in ihren Milchkaffee tauchen konnte, hatte sie schließlich von Cottard ein Attest erlangt, das ihr gestattete, aus einem bestimmten Restaurant [...] solche kommen zu lassen. [...] Ihr erstes Hörnchen nahm sie an dem Morgen wieder zu sich, an dem die Zeitungen über den Untergang der "Lusitania" berichteten. Während sie nun das Hörnchen in den Milchkaffee tauchte und ihrer Zeitung leichte Stupse gab, damit sie sie aufgeschlagen halten konnte, ohne zum Umblättern die mit dem Eintauchen beschäftigte Hand zu benutzen, sagte sie: "Wie grauenhaft! Das ist ja fürchterlicher als die entsetzlichsten Tragödien." Aber der Tod aller dieser Ertrunkenen musste ihr wohl doch auf ein Milliardstel seiner Größe reduziert erscheinen, denn während sie mit vollem Mund diese trostlosen Überlegungen anstellte, war der Ausdruck, der auf ihrem Gesicht lag und wahrscheinlich durch den Wohlgeschmack des Gebäcks darauf hervorgerufen wurde, das ihr so unschätzbare Dienste bei ihrer Migräne leistete, eher der eines sanften Behagens.
--Die wiedergefundene Zeit, Bd. 3/3, S. 3811

Nicht dass zumindest Cottards Attest hier ein unerwartetes Nachleben erlebt (vgl. voriger Eintrag) ist bemerkenswert, vielmehr ist es die Beobachtung, dass es der Padrona schließlich trotz der Katastrophe im sowieso schon sehr beileidsintensiven Weltkrieg nicht gelingt, ihre Befriedigung ob des Croissants zurückzuhalten.

Aber ist es nicht wirklich so? Seien wir mal ehrlich. Kommen Sie umhin, auch nach den fürchterlichsten Nachrichten schließlich doch einer ganz gegenläufig munteren Bewegung Ihres Geistes folgen zu müssen? Ich glaube nicht, dass Sie sich ernsthaft dafür schämen müssten. Schließlich leben wir in einem ständigen Gleichgewicht der Regungen, und wenn es schon so etwas wie ein großes, andauerndes Glück nicht zu geben scheint, wie sollte dann ein Mitleid eine so absolute Dimension haben können? Außer in einem sehr deprimierten Universum vielleicht.

Ich jedenfalls muss zugeben, dass es nur sehr wenige Dinge gibt, die mich hinreichend beschäftigen, um nachhaltig gegen ein wirklich gutes Hörnchen ankommen zu können... und vielleicht ist das ja auch ganz gut so.
Mme Verdurin, who suffered from headaches on account of being unable to get croissants to dip into her coffee, had obtained an order from Cottard which enabled her to have them made in the restaurant mentioned earlier. [...] She started her first croissant again on the morning the papers an-announced the wreck of the Lusitania. Dipping it into her coffee, she arranged her newspaper so that it would stay open without her having to deprive her other hand of its function of dipping, and exclaimed with horror, “How awful! It’s more frightful than the most terrible tragedies.” But those drowning people must have seemed to her reduced a thousand-fold, for, while she indulged in these saddening reflections, she was filling her mouth and the expression on her face, induced, one supposes, by the savour of the croissant, precious remedy for her headache, was rather that of placid satisfaction.
--Time regained

Not only that Cottards order sees an unexpected after-life here (see previous entry) is remarkable, rather it is the observation of the padrona's being unable to hold back her satisfaction due to the croissant despite this major catastrophe in the condolence-intensified times of the World War.

But isn't this actually the case? Let's be honest for a minute. Can you avoid having to follow an opposite movement of happiness in your mind even after receiving the most horrible news? I do not think you would have to be seriously ashamed of that. After all, we seem to live in a steady equilibrium of emotions and if something like great, constant happiness does not exist, then why should compassion and sadness have such absolute dimensions? Well, maybe except for in a very depressed universe.

I, for one, have to admit that there are very little things that occupy me sufficiently in order to keep beating a truly good piece of croissant... and maybe we should be very happy about that.

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