Wednesday, 26. December 2007

Abschied

Cottard starb bald darauf - "das Antlitz dem Feinde zugewandt", sagten die Zeitungen, obwohl er niemals aus Paris herausgekommen war, vielmehr in Wirklichkeit sich in Anbetracht seines hohen Alters überanstrengt hatte, bald übrigens gefolgt von Monsieur Verdurin, dessen Tod einen einzigen Menschen betrübte, nämlich - wer hätte das gedacht? - Elstir.
--Die wiedergefundene Zeit, Bd. 3/3, S. 3807

Für unseren armen Doktor ist es ja nicht der erste Tod, den er da stirbt, aber sicher doch etwas tragisch und gewöhnungsbedürftig, er wird uns wohl fehlen in der großen Gala der Romanfiguren, die uns noch bevorsteht. Und der gute Verdurin, an den mir auf 3807 Seiten keine besonders glänzenden Erinnerungen entstanden sind, für ihn ist der Tod zwar ein Novum, die Wiederauferstehung dadurch aber nicht eben wahrscheinlicher (eher habe ich für Cottard noch Hoffnung...). Immerhin lebt Elstir noch, den ich kurzzeitig mit dem dahingeschiedenen Bergotte verwechselt hatte.

Und so ist das Jahresende, das bevorstehende, doch immer auch außer einem Neuanfang, einem dem ein Zauber innewohnt, ein Abschied. Bald, so hoffe ich, werde ich auch die Recherche durchlesen haben und kann nicht mehr auf die Frage "was liest du denn gerade?" mit einem leichten Seufzer und ausufernden Handbewegungen antworten. Aber so ist das nun mal, das soll uns nicht davon abschrecken, mit großen Schritten weiter einer berüchtigten Abendgesellschaft entgegenzueilen.
Cottard died “with his face to the enemy” the papers said, though he had never left Paris; the fact was he had been overworked for his time of life and he was followed shortly afterwards by M. Verdurin, whose death caused sorrow to one person only—would one believe it?—Elstir.
--Time regained

For the poor professor this isn't even his first death, but still, I guess, is quite tragic and needs some getting used to. We'll probably be missing him for the great gala to come. Our old friend Verdurin, which hasn't left too many all-too-bright memories over the last 3807 pages for me, suffers from death for the first time in his life, but that doesn't make resurrection any more likely, I fear (I rather have some hope for Cottard...). At least Elstir's alive though not too well, whom I had temporarily confused with his passed-away fellow artist Bergotte.

And so the New Year's Eve ahead is apart from this magical new beginning just as much a kind of farewell. Soon, I should hope, I will have read through the whole of the Recherche and will no longer be able to reply to the question "what book do you currently read?" by casting a sigh and waving my hands in overflowing gestures. But that's just the way it is, it shall not keep us from further hastening towards the infamous soiree...

Tuesday, 25. December 2007

Höhe 307

Bei seiner zweiten Rückkehr nach Paris erhält Marcel einen Brief seiner Jugendliebe Gilberte, die von ihrer Zeit im während des Ersten Weltkriegs von den Deutschen belagerten Tansonville schreibt:

Die Schlacht bei Méséglise hat mehr als acht Monate gewährt, die Deutschen haben dort mehr als sechshunderttausend Mann verloren, sie haben Méséglise zuerstört, aber nicht eingenommen. Der kleine Weg, den Sie so sehr liebten und den wir damals Weißdornweg nannten - Sie behaupteten damals, in der Kindheit hätten Sie sich dort in mich verliebt, während ich Ihnen doch unbedingt versichern kann, dass ich in Sie verliebt gewesen bin - hat eine so große Bedeutung erlangt, wie ich Ihnen gar nicht sagen kann; das riesige Kornfeld, an das er stößt, ist die berühmte Höhe 307, deren Namen Sie immer wieder im Tagesbefehl finden konnten. Die Franzosen haben die kleine Brücke über die Vivonne gesprengt, die, wie Sie sagten, Sie nicht ganz so sehr in Ihre Kindheit zurückgeführt hat, wie Sie es sich wünschten.
-- Die wiedergefundene Zeit, Bd. 3/3, S. 3787f

Was ich zu diesem Abschnitt bemerken will ist nicht die Wandlung in Gilbertes Beschreibung ihres Aufbruchs aus Paris, der Proust an dieser Stelle wichtig ist, sondern der klare geografische Bezug, den der Autor hier schafft. Eine Höhe 307 gab es nämlich tatsächlich, und sie war im Ersten Weltkrieg aufgrund ihrer strategischen Bedeutung in der Schlacht von Verdun lange Zeit umkämpft. Tausende Soldaten mussten Sterben an diesem kleinen Hügel, nördlich des kleinen Ortes Ornes:
Größere Kartenansicht

Fast kann man die romantische Vivonne sich durch das Kornfeld schlängeln sehen. Nur zu traurig, dass der Ort durch eine so furchtbare Tragödie zu zweifelhaftem Ruhm gelangen musste.
Shortly after his second return to Paris, Marcel receives a letter from his early love Gilberte, who writes about her time in Tansonville under siege during WWI:

The Battle of Méséglise lasted more than eight months, the Germans lost more than one hundred thousand men there, they destroyed Méséglise but they have not taken it. The little road you so loved, the one we called the stiff hawthorn climb, where you professed to be in love with me when you were a child, when all the time I was in love with you, I cannot tell you how important that position is. The great wheatfield in which it ended is the famous ‘slope 307’ the name you have so often seen recorded in the communiqués. The French blew up the little bridge over the Vivonne which, you remember, did not bring back your childhood to you as much as you would have liked.
-- Time regained

The point I'd like to make here is not so much the difference in Gilberte's description of her departure from Paris, which seems to be of importance to Proust, but the clear geographic description the author here gives. There actually is a 'slope 307' and there were heavy battles for it during the war due to its high strategic importance. Thousands of soldiers had to die on this slope, north of the little village Ornes in the vicinity of Verdun (see map above).

You can nearly see the romantic river of Vivonne meander through the wheatfield. Too bad the place had to come to doubtable glory due to such a horrible tragedy.

Tuesday, 18. December 2007

Impressionismus

Ich habe einige Stellen übersprungen, dich sicher genauso einer Erwähnung wert gewesen wären, um heute das folgende Credo der impressionistischen Literatur zu zitieren. Marcel hatte beim Lesen des Tagebuches der Goncourt schwer an seinen literatischen Fähigkeiten gezweifelt, die ihm so ungeeignet zur exakten Beschreibung der Abendgesellschaften schienen (was, frage ich Sie, ist denn dann exakt?). Bis...

Wenn ich außer dem Hause zu Abend aß, sah ich nicht die Tischgenossen, weil ich sie vielmehr, wenn ich sie zu betrachten meinte, im Grunde durchleuchtete. [...] Aber nahm das meinen Porträts, die ich ja doch gar nicht mal als solche ausgab, nun wohl jeden Wert? Muß auf dem Gebiet der Malerei das eine Bildnis etwa, das gewisse auf den Umriß, das Licht, die Bewegungen bezügliche Wahrheiten augenfällig macht, deshalb unbedingt einem anderen, ihm keineswegs ähnlichen der gleichen Person nachstehen, in dem tausend Einzelheiten, auf welche es selbst verzichtet hat, bis ins kleinste genau aufgezeichnet sind, einem zweiten Bildnis, aus dem man schließen kann, dass das Modell bezaubernd gewesen ist - während man es nach dem ersten für hässlich gehalten hatte - worin eine dokumentarische und sogar historische Wahrheit liegen mag, die aber nicht notwendigerweise auch künstlerische Wahrheit bedingen muss?
-- Die wiedergefundene Zeit, Bd. 3/3, S.3736

Die Antwort lautet natürlich nein. Aber liegt nicht auch in dem ersteren Bildnis eine dokumentarische Wahrheit, eine die sich nur einer naiven Betrachtung zunächst entzieht? Gerade dieser dahinterstehende Eindruck wird es sein, der uns nach weiteren 200 Seiten (wo ich gerade mit dem Lesen feststecke bis die Episoden hier im Blog aufgearbeitet sind) meine bisher ultimative Lieblingsbeobachtung der Recherche bescheren wird (darum ist es auch nicht so schade, wenn ich diese jetzt zum vierten Mal aufs neue lese und mich nicht von ihr lösen kann).
I left out some parts that would certainly have been worth mentioning in order to today quote the following credo of impressionist literature. Marcel had, while reading the Goncourt diary, very much doubted his literary skills, which seemed so unfit to exactly describe the soirees Goncourt talks about (now what, if not Marcels description, is exact then, I ask). Until...

I did not see the guests because when I thought I was observing them I was radiographing them. From that it resulted that in collating all the observations I had been able to make about the guests in the course of a dinner, the design of the lines traced by me would form a unity of psychological laws in which the interest pertaining to the discourse of a particular guest occupied no place whatever. But were my portraits denuded of all merit because I did not compose them merely as portraits? If in the domain of painting one portrait represents truths relative to volume, to light, to movement, does that necessarily make it inferior to another quite dissimilar portrait of the same person in which, a thousand details omitted in the first will be minutely related to each other, a second portrait from which it would be concluded that the model was beautiful while that of the first would be considered ugly, which might have a documentary and even historical importance but might not necessarily be an artistic truth.
-- Time Regained

The answer is, obviously, no. Doesn't there even lie in the former portrait a documentary truth, one which evades a first and naive observation? Exactly this profound impression it will be, that after some 200 pages (where I'm currently stuck with reading until the episodes are posted here) allows us my up to this point ultimately favourite observation in the Recherche (which is why it's not all too bad I'm stuck and will read it for the fourth time before I can move on).

Friday, 30. November 2007

Temps Retrouvé

Es scheint, nach einigem bedächtigen Abwarten, an der Zeit den alles bedeutenden, in langen Stunden der Lektüre herbeigesehnten, den alles umfassenden und magischen Schrein zu öffnen: Die wiedergefundene Zeit.

Falls es sich nur wegen dieses Gefühls lohnen sollte, die Recherche zu lesen, es würde sich doch gelohnt haben. Ich bin fast zu andächtig, ein Zitat auszusuchen. Wir befinden uns mit Marcel wieder auf dem Weg zwischen Combray und Méséglise. Gilberte spaziert mit uns:

Einmal, beim ersten Mal, sagte sie zu mir: "Wenn Sie nicht zu großen Hunger hätten und es nicht so spät wäre, könnten wir, wenn wir diesen Weg zur Linken nehmen und uns dann erst nach rechts wenden, in weniger als einer Viertelstunde in Guermantes sein." Das war genauso, als hätte sie zu mir gesagt: "Wenden Sie sich nach links, dann nach rechts, und Sie werden an das Unerreichbare rühren, an jene stes zurückweichenden Fernen, von denen man auf Erden immer nur die Richtung kennt."
-- Die wiedergefundene Zeit, Bd. 3/3, S. 3699

Aber manchmal ist es doch viel schöner, nicht den direkten Weg zu gehen, sondern einen beschaulichen Umweg zu machen. Nichtsdestoweniger -- Sie können versichert sein, die stets zurückweichenden Fernen der wiedergefundenen Zeit liegen direkt von uns und nach einer kleinen Wegbiegung erwartet uns Großes...
It seems, after some deliberate waiting, that it is time for us to open the ultimate, longed-for, all-mighty and magical shrine: Time Regained.

If it's only for this feeling that reading the Recherche has any worth, it'd still be worth it. I'm nearly too devotional to pick a quote. In this one, we're with Marcel on the path between Combray and Méséglise. Gilberte is walking with us:

I remember that, in the course of our conversations while we took these walks, she said things which often surprised me greatly. The first was: “If you were not too hungry and if it was not so late, by taking this road to the left and then turning to the right, in less than a quarter of an hour we should be at Guermantes.” It was as though she had said: “Turn to the left, then the first turning on the right and you will touch the intangible, you will reach the inaccessibly remote tracts of which we never upon earth know anything but the direction."
-- The Fugitive (in the German translation, this is already part of Time Regained)

Still, you will have to agree, there is also beauty in not taking the direct way but making a contemplative detour. Nonetheless -- you can be assured that the inaccessible remote tracts of time regained are lying directly ahead and that after a little turn we ought to find something wonderful.

Wednesday, 31. October 2007

Sodom und Gomorrah reloaded

Der Zweifel, den die Worte Aimés in mir zurückgelassen hatten, trübte die ganze Freundschaft, die zwischen uns in Balbec und Doncières bestanden hatte, und wiewohl ich jetzt nicht an Freundschaft glaubte und auch nicht daran, sie für Robert je wirklich empfunden zu haben, musste ich mir doch - wenn ich von neuem an die Geschichte von dem Liftboy und dem Restaurant dachte, in dem ich mit Saint-Loup und Rahel gefrühstückt hatte - ernstlich Mühe geben, den Tränen zu gebieten
-- Die Entflohene, Bd. 3/3, S. 3693

Mit diesem schlichten Satz endet die Entflohene und mit ihr, so scheint es, die alte Freundschaft Marcels mit Saint-Loup. Was wir auf den Seiten davor erfahren, ist einigermaßen empörend: Odette, die Witwe Swanns, heiratet de Forcheville; ihre Tochter Gilberte Swann dagegen heiratet Saint-Loup und verleugnet ihre Herkunft bis zu dem Punkt, da man den Namen Swann in ihrer Gegenwart nicht mehr erwähnen, geschweige denn von ihm als ihrem Vater sprechen darf; als Konsequenz wird sie endlich vollständig in die Gesellschaft aufgenommen. Doch das junge Ehepaar hat sozusagen noch einige Leichen im Keller: Gilberte teilt die Neigungen Albertines, wodurch ein weiteres Muster in den Beziehungen Marcels in Erscheinung tritt, und Saint-Loup ist, naja, schwul. Aimé erzählt Marcel von seinen Liebesabenteuern in Balbec und Doncières und Marcel ist gleichermaßen verwundert wie erschüttert, an seinem vermeintlichen guten Freund so unerahnte Seiten entdecken zu müssen.

Diese Undurchschaubarkeit der Motive und Handlungen aller, auch der Marcel am vertrautensten scheinender Personen ist ein Grundmotiv des wiederum ereignisreichen Endes des Romans. Man legt ihn weg und ist betroffen - der Vorhang zu und alle Fragen offen. Aber noch nicht ganz zu, kann ich Sie trösten, es folgt der ultimative Schluss: Die wiedergefundene Zeit...
The doubt that Aimé‘s words had left in my mind tarnished all our friendship at Balbec and Doncières, and albeit I did not believe in friendship, nor did I believe that I had ever felt any real friendship for Robert, when I thought about those stories of the lift-boy and of the restaurant in which I had had luncheon with Saint-Loup and Rachel, I was obliged to make an effort to restrain my tears.
-- The Fugitive

With this humble sentence ends the Fugitive (at least in the German translation), and with it, as it seems, the old friendship between Marcel and Saint-Loup. What we get to know on the previous pages is somewhat appaling: Odette, Swann's widow, marries de Forcheville; her daughter Gilberte Swann in contrast marries Saint-Loup and denies her origin to the point where you are not allowed to mention the name Swann in her presence, let alone speak of him as her father; as a result she is finally fully accepted in society. But the young couple has something more up its sleeve: Gilberte shares Albertine's sexual tendencies and Saint-Loup is downright gay. Aimé tells Marcel about the latter's sexual adventures in Balbec and Doncières and Marcel is just as much surprised as he is shocked, to have to discover those unexpected tendencies on his seemingly good friend.

This kind of intransparency in motives and actions, even with people Marcel seemed to be most intimate with, is a leitmotif of this again very eventful closing part of the novel. You put it away and have to admit - the curtain's closed but all the questions still remain. But I can comfort you: what is to come is the ultimate ending, Time regained.

Tuesday, 30. October 2007

The Analysis of Mind

Alles was uns unvergänglich scheit, strebt dem Untergang zu; [...] Die Erschaffung der Welt hat nicht am Anfang stattgefunden, sie findet alle
Tage statt.

-- Die Entflohene, Bd. 3/3, S. 3667

Wenn Proust hier von den sich wandelnden Verhältnissen der Pariser Gesellschaft spricht, und gleichzeitig von der Unbeständigkeit unsere subjektiven Wahrnehmung, meint er etwas völlig anderes und dann doch auch wieder etwas ganz ähnliches wie Bertrand Russell in The Analysis of Mind:

Es liegt keine logische Unmöglichkeit in der Hypothese, die Welt sei erst vor fünf Minuten entstanden, genau wie sie zu diesem Zeitpunkt war, mit Menschen, die sich an eine vollkommen unreale Vergangenheit "erinnerten". Es gibt keine logisch notwendige Verbindung zwischen Ereignissen zu verschiedenen Zeitpunkten; daher kann nichts, das jetzt geschieht oder in der Zukunft geschehen wird, die Hypothese widerlegen, dass die Welt vor fünf Minuten entstanden sei.
-- Bertrand Russell, The Analysis of Mind, Lecture IX

Und beide haben sie Recht, nicht wahr? Vielleicht sollten wir einfach dafür sorgen, dass die Welt, die gleich entstehen wird besser ist als jene, die schon fünf Minuten alt ist.
Everything that seems to us imperishable tends to destruction; [...] The creation of the world did not occur at the beginning of time, it occurs every day.
-- The Fugitive

When Proust speaks of the changing conditions in Parisian society, and at the same time of the discontinuity of our subjective perception, he means something entirely different and then again something very alike to what Bertrand Russell speaks of in The Analysis of Mind:

There is no logical impossibility in the hypothesis that the world sprang into being five minutes ago, exactly as it then was, with a population that "remembered" a wholly unreal past. There is no logically necessary connection between events at different times; therefore nothing that is happening now or will happen in the future can disprove the hypothesis that the world began five minutes ago.
-- Bertrand Russell, The Analysis of Mind, Lecture IX

And both are right, aren't they? Maybe we should just make sure the world that is about to come into being is better than that which has been created just five minutes ago.

Monday, 29. October 2007

Telegramm aus dem Jenseits II

Soll ich den Knaller zünden? Marcel hatte in Venedig ein Telegramm erhalten, das von der vermeintlich toten Albertine zu stammen schien. Jetzt, im Zug nach Hause, liest er einen Brief Gilbertes, in dem sie ihre Vermählung mit Saint-Loup bekanntgibt. Und da...

Plötzlich spürte ich, wie in meinem Hirn eine Tatsache, die sich dort als Erinnerung festgesetzt hatte, ihren Platz verließ und ihn einer anderen abtrat. Die Depesche, die ich letzthin erhalten hatte und von der ich geglaubt hatte, sie sei von Albertine, diese Depesche stammte von Gilberte. Da die etwas gekünstelte Schrift Gilbertes vor allem darin bestand, dass, wenn sie eine Zeile schrieb, die T-Striche so weit in die darüberliegende Zeile gerieten, dass einzelne Wörter darin unterstrichen schienen, und die I-Punkte in solcher Höhe schwebten, dass sie die Sätze, die darüberstanden, willkürlich abteilten [...] war es ganz natürlich, dass der Angestellte des Telegraphenbüros die Schlingen der s oder y in der oberen Zeile als ein "ine" gelesen hatte, das sich dem Namen Gilberte anschloss. [...] Dass außerdem noch zwei oder drei Wörter falsch gelesen oder miteinander verwechselt waren [...] genügte, um die Einzelheiten meines Irrtums zu erklären [...]. Ein guter Teil von dem, was wir [...] mit ebensoviel Eigensinn wie Treuherzigkeit glauben, rührt von einer ersten Täuschung über die Voraussetzungen her.
-- Die Entflohene, Bd. 3/3, S. 3648f

Das haben wir wohl dem schlampigen Telegraphenbüro von Venedig zu verdanken. Aber auch über Marcels Geisteszustand lässt die Verwechslung Schlüsse zu -- Albertine ist tot wie zuvor, aber ihr Geist spukt doch weiter durch seine Gedanken.
Marcel, while in Venice, had received a telegram, that seemed to be sent by the allegedly dead Albertine. Now, on the train back to France, he reads a letter from Gilberte, in which she announces her espousal with Saint-Loup. And suddenly...

All of a sudden, I felt in my brain a fact which had installed itself there in the guise of a memory leave its place which it surrendered to another fact. The telegram that I had received a few days earlier, and had supposed to be from Albertine, was from Gilberte. As the somewhat laboured originality of Gilberte’s handwriting consisted chiefly, when she wrote one line, in introducing into the line above the strokes of her t_s which appeared to be underlining the words, or the dots over her i_s which appeared to be punctuating the sentence above them [...] it was quite natural that the clerk who dispatched the telegram should have read the tail of an s or z in the line above as an ‘-ine’ attached to the word ‘Gilberte.’ [...] Add that, apart from this, two or three words had been misread, dovetailed into one another [...], and this was quite enough to explain the details of my error and was not even necessary. [...] A large part of what we believe to be true [...] with a persistence equalled only by our sincerity, springs from an original misconception of our premisses.
-- The Fugitive

Obviously, we owe all our bafflement to the sloppy Italian telegraphic service. But this also puts some light on Marcels state of mind -- Albertine's dead as ever, but her ghost still lingers on his mind.

Friday, 26. October 2007

Impertinenter Stinker

Der Titel ist ein Insider, aufgefallen ist mir nur dieses schöne Zitat. Es stammt ursprünglich von Marcels Großmutter, an die sich seine Mutter erinnert, am Bahnhof Venedigs wartend, während ihr Sohn - gelähmt wie trotzig - im Hotel ausharrt, wo er sich in den Kopf gesetzt hat noch bleiben zu wollen, da die Ankunft der Baronin Putbus mit Bediensteten (wer's gelesen hat, erinnert sich an ihre berüchtigte Jungfer) angesagt ist:

"Es ist merkwürdig, niemand kann zugleich so unerträglich und nett wie dieser Kleine sein."
-- Die Entflohene, Bd. 3/3, S. 3648

Da ist wohl was dran. Und auch in manchen vorhergegangenen Längen der Entflohenen könnte man das bonmot anwenden. Aber schließlich kommt Marcel ja doch, der Zug fährt nicht ohne ihn, während wir uns durch eine kurze letzte Episode der Wiedergefundenen Zeit nähern.
The title's an insider joke, but what occured to me is this beautiful quote. It's originally been made by Marcel's grandmother, whom his mother remembers while waiting at Venice train station for her son, who - paralyzed and defiant at the same time - remains at the hotel, where he's planning to wait for baroness Putbus and her attendants (if you've read it you will remember her infamous maid), whose upcoming arrival has been announced. Again, this particular sentence seems to be missing in Moncrief:

"It's odd, nobody can be so unbearable and at the same time so kind as this boy."
-- The Fugitive

There's definitely a point to that. And you can apply this bonmot also to some lengthy episodes in The Fugitive. But finally Marcel arrives, the train doesn't leave without him, while - through a short last chapter - we approach the Time Regained.

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