Friday, 25. August 2006

Death of an Impressionist

[Bergotte] war tot. Tot für immer? Wer kann es sagen. Gewiß erbringen spiritistische Experimente nicht deutlicher als religiöse Dogmen den Beweis für das Fortleben der Seele. Man kann nur sagen, dass alles in unserem Leben sich so vollzieht, als träten wir bereits mit der Last in einem früheren Dasein übernommener Verpflichtungen in das derzeitige ein; es besteht kein Grund in den Bedingungen unseres Erdendaseins selbst, weshalb wir uns für verpflichtet halten, das Gute zu tun, zartfühlend, ja, auch nur höflich zu sein; auch nicht für den Künstler, der nicht an Gott glaubt, weshalb er sich gedrungen fühlen soll, zwanzigmal sein Werk von neuem zu beginnen, dessen Bewunderung seinem von Würmern zerfressenen Leib wenig ausmachen wird. [...] Alle diese Verpflichtungen, die im gegenwärtigen Dasein nicht hinlänglich begründet sind, scheinen einer anderen, auf Güte, auf Gewissenhaftigkeit, auf Opferbereitschaft basierenden Welt anzugehören. [...] Der Gedanke, Bergotte sei nicht für alle Zeiten tot, ist demnach nicht völlig unglaubhaft.
-- Die Gefangene, Bd. 8, S. 2999f

Der gute Bergotte wurde - für einen Künstler standesgemäß - beim Besuch einer Ausstellung dahingerafft, schon kurz nachdem er die Bühne der Recherche nach langer Abwesenheit wieder betreten hatte. Die Gedanken, die Proust zu seinem Tod hier anführt, scheinen in vieler Hinsicht interessant.

Zum einen ist das Argument für die Existenz eines Jenseits oder einer höheren Daseinsebene, das Proust hier anführt, seit Kants Argumentation (die er, wenn ich mich recht entsinne, in einem frühen Werk aufgestellt und später selbst widerlegt hat) für die Notwendigkeit einer z.B. die Moral begründenden Instanz außerhalb der gegenwärtigen Welt bekannt und schon ein eigentlich spannender Gedankengang.

Zum anderen scheint mit Proust -- der wie fast durchweg in Der Gefangenen ein alter Mann zu sein scheint -- auch hier über den Sinn nachzudenken, bis an sein Totenbett, an dem er einst das Wort FIN unter sein Manuskript setzen sollte, an der Vollendung seines Kunstwerkes zu arbeiten. Ist es die Religion, eine Art Glaube, die ihm hierzu die Kraft zu geben geholfen haben?
[Bergotte] was dead. Permanently dead? Who shall say? Certainly our experiments in spiritualism prove no more than the dogmas of religion that the soul survives death. All that we can say is that everything is arranged in this life as though we entered it carrying the burden of obligations contracted in a former life; there is no reason inherent in the conditions of life on this earth that can make us consider ourselves obliged to do good, to be fastidious, to be polite even, nor make the talented artist consider himself obliged to begin over again a score of times a piece of work the admiration aroused by which will matter little to his body devoured by worms. [...] All these obligations which have not their sanction in our present life seem to belong to a different world, founded upon kindness, scrupulosity, self-sacrifice. [...] So that the idea that Bergotte was not wholly and permanently dead is by no means improbable.
-- The Captive

Poor chap Bergotte - as it behoves an artist to die he was carried off while visiting an exhibition, shortly after entering the stage of the Recherche again after a long absence. The thoughts about his death Proust drops here seem to be interesting in many ways.

For one thing, the line of argumentation proposing the existence of a kind of kingdom-come or a higher level of existence Proust mentions here is known since Kant's argumentation (which he, if I recall it correctly, puts forward in one of his earlier works only to refutes it himself later) for the necessity of a kind of authourity outside life on this earth to give reasons for e.g. moral and is in itself an interesting line of thought indeed.

For the other, it is Proust -- seemingly as an old man as nearly throughout The Captive -- reflecting on the sense of working on the perfection of his masterpiece up to his deathbed in which he is to write the last word FIN under the manuscript. Is it religion, a kind of belief, that helped giving him the strength to do so?

Janus II

Jedes geliebte Wesen und in gewissem Ausmaße sogar jedes Wesen überhaupt ist für uns wie ein Januskopf, das heißt, es zeigt uns, wenn es uns verlässt, die uns wohlgefällige Seite, eine mißliebigere jedoch, solange wir es ständig zu unserer Verfügung wissen.
 -- Die Gefangene, Bd. 8, S. 2991

Wie ich in einem früheren Eintrag, verwendet hier auch Proust das antike Bild des Janus für die ambivalente Natur der menschlichen Persönlichkeit -- oder besser ihrer Wirkung auf uns.

Eine weitere Facette der Proust'schen Kritik am Begriff der Person ist dies, die zudem eine Verbindung zum in der Gefangenen allgegenwärtigen Eifersuchtsmotiv schafft.

Nach einer verhältnismäßig langen "Durststrecke" beginnt etwa hier wieder eine Folge von interessanten, oft philosophischen Betrachtungen, die Stoff für weitere Blog-Einträge bieten mögen.
Every person whom we love, indeed to a certain extent every person is to us like Janus, presenting to us the face that we like if that person leaves us, the repellent face if we know him or her to be perpetually at our disposal.
 -- The Captive

Like I did in a previous entry, Proust here uses the ancient imagery of Janus for the ambivalent nature of human personality -- or better its effect on us.

This is yet another facet of Prousts critical view of the concept of the individuum, also making the connection to a motive omnipresent in The Captive: jealousy.

After a "tough ride" over the last pages, at about this point Proust again begins to make a series of interesting, often philosophical, reflections, some of which may lead to further blog posts.

Monday, 21. August 2006

recursive: adj., see recursive

Jener andere Musiker, der mich im Augenblick in so großes Entzücken versetzte, Wagner, der aus seinen Schubfächern ein köstliches Stück zog, um es als rückblickend unerlässlich erscheinendes Thema einem Werk einzufügen, an das er noch nicht gedacht hatte, und der dann, nachdem er eine erste mythologische Oper, dann eine zweite, schließlich noch weitere geschaffen hatte, mit einem Male bemerkte, dass eine Tetralogie, der 'Ring' entstanden war, hat gewiss ungefähr den gleichen Rausch wie Balzac erlebt, als dieser auf seine Werke den Blick gleichzeitig eines Fremden und eines Vaters warf, in dem einen die Reinheit Raffaels, dem anderen die Einfalt des Evangeliums entdeckte und mit einem Male, wenn er sie auf Grund einer nachträglichen Erleuchtung in aller Klarheit anschaute, zu der Erkenntnis kam, dass sie noch schöner sein könnten, wenn er sie zu einem Zyklus vereinigte, in dem die gleichen Personen wiederkehren würden, und seinem Werke durch diesen Zusammenschluss noch einen - den letzten und erhabensten - Pinselstrich hinzufügte. Eine nachträgliche, nicht künstlich geschaffene Einheit: sonst wäre sie zerfallen wie so viele Systematisierungen von mittelmäßigen Schriftstellern, die mit einem großen Aufgebot an Titeln und Untertiteln sich den Anschein geben, als hätten sie einen einzigen, transzendenten Zweck verfolgt. Nicht künstlich, vielleicht sogar um so wirklicher, als sie nachträglich erst ihr Entstehen einem entflammten Augenblick verdankt, angesichts von Teilen entdeckt worden ist, die nur noch zu einem Ganzen zusammenschießen mussten; eine Einheit, die nichts von sich wusste, also lebendig und nicht logisch bedingt ist.
-- Die Gefangene, Bd. 8, S. 2963f

Ein erstaunlich langer Abschnitt, besonders dem ersten Satz ist es wohl anzurechnen, ist es, der heute meine Aufmerksamkeit erweckt hat: Proust schreibt über große Werke, die sich zu einer Einheit verbanden.

Es ist vermutlich kein Zufall, dass wir diesen Abschnitt in Die Gefangene finden. Die Entstehungsgeschichte der Recherche ist eine Geschichte der natürlich gewachsenen Einheit, wie sie hier beschrieben ist. Proust hatte ursprünglich nicht geplant (und, wie es scheint, er hätte es nicht planen können), ein so umfangreiches Werk zu verfassen. Zwischen die zuerst geschriebenen Bücher Du côté de chez Swann und Le Temps retrouvé schoben sich über die Jahre jene, die jetzt die Bände 2 bis 9 der Suhrkamp-Ausgabe füllen. Die Gefangene gehörte zu den später verfassten Teilen des Gesamtwerkes, als sich die ungeheure Einheit schon überblicken ließ.

Wirklich spannend wäre es natürlich, herauszufinden, wann diese Proust genau diese Passage verfasst hat -- Literaturwissenschaftler sind zu einem dies betreffenden Kommentar eingeladen ;).
The other musician, he who was delighting me at this moment, Wagner, retrieving some exquisite scrap from a drawer of his writing-table to make it appear as a theme, retrospectively necessary, in a work of which he had not been thinking at the moment when he composed it, then having composed a first mythological opera, and a second, and afterwards others still, and perceiving all of a sudden that he had written a tetralogy, must have felt something of the same exhilaration as Balzac, when, casting over his works the eye at once of a stranger and of a father, finding in one the purity of Raphael, in another the simplicity of the Gospel, he suddenly decided, as he shed a retrospective illumination upon them, that they would be better brought together in a cycle in which the same characters would reappear, and added to his work, in this act of joining it together, a stroke of the brush, the last and the most sublime. A unity that was ulterior, not artificial, otherwise it would have crumbled into dust like all the other systématisations of mediocre writers who with the elaborate assistance of titles and sub-titles give themselves the appearance of having pursued a single and transcendent design. Not fictitious, perhaps indeed all the more real for being ulterior, for being born of a moment of enthusiasm when it is discovered to exist among fragments which need only to be joined together. A unity that has been unaware of itself, therefore vital and not logical.
-- The Captive

A unusually lengthy section, mostly because of the first sentence, it is, that captured my attention today: Proust is writing about great works that have combined themselves into a unity.

It is probably not caused by accident that this section can be found in The Captive. The history of the origins of the Recherche is a history of naturally grown unity, much like it is described here. Proust initially hadn't planned (and, as it seems, wouldn't have been able to plan) to be the author of a novel so comprehensive. Gradually, the books written first, Du côté de chez Swann and Le Temps retrouvé were shifted apart by the books that now form volumes 2 to 9 of the Suhrkamp edition. The Captive was one of the pieces of the novel that was written later, when the immense unity was already comprehensible.

It'd be really interesting to find out when this passage was actually written -- everyone in possession of a critical edition is invited to post a respective comment ;).

Tuesday, 15. August 2006

There are only middles

Leider verhält es sich mit dem Beginn einer Lüge unserer Geliebten wie mit den Anfängen unserer eigenen Liebe oder einer Berufung. Sie entstehen, sie wachsen an, doch entgehen sie unserer Aufmerksamkeit. Will man sich erinnern, auf welche Weise man angefangen hat, eine Frau zu lieben, so liebt man sie bereits.
-- Die Gefangene, Bd. 8, S. 2953

Ein äußerst philosophischer Gedanke, besonders gegen Ende des Zitates. Robert Frost hat das einst so ausgedrückt in einem Gespräch zweier Eheleute, gerade eingezogen in einem neuen Haus, die sich fragen, wessen Idee der Umzug eigentlich gewesen sei:

                                        "My dear,
It's who first thought the thought. 
      You're searching, Joe,
For things that don't exist; I mean beginnings.
Ends and beginnings - there are no such things.
There are only middles."
                      "What is this?"
                                   "This life?
Our sitting here by lantern-light together
Amid the wreckage of a former home?
You won't deny the lantern isn't new.
The stove is not, and you are not to me,
Nor I to you."
               "Perhaps you never were?"
-- In the Home Stretch, Mountain Interval, Robert Frost, 1916


Gibt es also je etwas wie einen Anfang, der nicht durch die Perspektive einer schon längst begonnenen, erlebten Realität verfälscht wird? Scheinbar nicht. Was aber ist der Anfang dann?

Er ist ungreifbar! Proust hat das erkannt, genau wie Frost. Es gibt kaum so etwas zauberhaft fragiles wie einen Anfang --
The first stages of falsehood on the part of our mistress are like the first stages of our own love, or of a religious vocation. They take shape, accumulate, pass, without our paying them any attention. When we wish to remember in what manner we began to love a woman, we are already in love with her;
-- The Captive


An utmost philosophical thought, especially the end of the quote. Robert Frost has once expressed the same idea in a conversation between a husband and wife who, after having just moved into a new house, wonder whose idea the move had actually been. You can see his interpretation of the question in the excerpt from "In the Home Stretch" above.

So is there such a thing as a beginning that is not falsified by seeing it from the perspective of an already begun, experienced reality? Apparently not. But what is a beginning then?

It is intangible! Proust has recognized that, as has Frost. There barely is a thing so magically fragile as a beginning --

Memories

Das Gedächtnis ist eben weit weniger eine unseren Blicken immer gegenwärtige Kopie der verschiedenen Fakten unseres Lebens, als vielmehr ein Nichts, aus dem sekundenlang eine momentane Ähnlichkeit uns in einer Art von Auferstehung tote Erinnerungen heraufzuholen erlaubt.
-- Die Gefangene, Bd. 8, S. 2943f

Ein weiterer Ausschnitt, den ich nach längerer Pause beim Lesen fand und bemerkenswert finde. Auch hier scheint wieder der Weg hin zur "unwillkürlichen Erinnerung" klar.

Das Gedächtnis, wenngleich keine genaue Kopie der Realität, hat hier nichtsdestoweniger eine ganz beachtliche Rolle: man möchte fast meinen, es sei das eigentliche Jüngste Gericht. Nicht nur, dass es gleichsam über Leben und Tod einer vergangenen, erinnerten Zeit entscheidet -- die Erinnerung versetzt uns als ganzen Mensch zurück in jenen längst vergangenen Zustand (und wäre das nicht möglich, könnten wir dann diese Vergangenheit überhaupt zu unserem Leben zählen?). Wenn auch nur für Sekunden, so ist das Gedächtnis somit doch ein retrospektiver Zaubertrank und ein identitätsgebendes Phänomen zugleich. Dem spricht auch die Unvollkommenheit der Erinnerung nicht entgegen, höchstens lässt sie uns an der Möglichkeit von wahrer Retrospektive und Identität zweifeln.
Memory, instead of being a duplicate always present before our eyes of the various events of our life, is rather an abyss from which at odd moments a chance resemblance enables us to draw up, restored to life, dead impressions.
-- The Captive

Another memorable extract I found when I continued reading after a longer break. Again, the way to a concept of "involuntary memory" seems paved.

Memory, although not an exact copy of reality, still has a remarkable role here: one is close to believing it is the Last Judgement. Not only does it decide over life and death of a past and remembered time -- memory puts us as an integrated being back into that long-forgotten state of affairs (and if this was not possible, could we then consider that past a part of out life at all?). Even if only for seconds, this makes memory a kind of magic retrospective potion and a source of identity at the same time. Its imperfection does not speak against this, yet it may make us doubt the possibility of real retrospective and identity.

Sisyphe

Die Neugier der Liebe gleicht der, die Ortsnamen in uns wecken: obwohl sie immer enttäuscht wird, wächst sie unaufhörlich, unersättlich nach.
-- Die Gefangene, Bd. 8, S. 2939

Ein ganzes Kapitel, so erinnert der Leser sich, war einst den Ortsnamen gewidmet. Mich hatte der Titel in der Kapitelübersicht damals ehrlich gesagt fast überrascht -- was könnte Spannendes an so etwas Unscheinbarem zu finden sein?

Jetzt scheint der Bogen ebenso weit gespannt, wie die hier aneinandergefügten Fragmente des Romans im Bücherregal auseinanderliegen: es ist eine fast absurde Geisteshaltung, die beiden Faszinationen zugrunde liegt, der der Liebe wie der der nie betretenen Orte.

Sollen wir uns also darüber beklagen, dass die Neugier unstillbar immer weiter von Ort zu Ort, von Begebenheit zu Begebenheit springt? Ist es nicht vielmehr ein Grundprinzip des Lebens, die unerfüllte (und unerfüllbare) Sehnsucht als immer neuen Antrieb zuzulassen?
Amorous curiosity is like that which is aroused in us by the names of places; perpetually disappointed, it revives and remains for ever insatiable.
-- The Captive

A whole chapter, so the reader remembers, was once dedicated to the names of places. Frankly speaking, I was quite surprised when I saw that title in the list of chapters back then -- what could be interesting about something so
unimpressive?

Now we can see a connection as wide as the two fragments of the novel connected here are standing apart on the bookshelf: it's an almost absurd state of mind that is the reason for both fascinations -- the fascination of love as of unseen places.

Yet shall we mourn that curiosity is unappeasably racing from one place and one suspicion to the other? Isn't it rather a basic principle of life to accept the insatiate (and insatiable) longing as an everlasting stimulus?

Friday, 14. April 2006

Traumzeit

So bleibt die Welt des Wachseins [der des Schlafes] doch darin überlegen, dass sie jeden Morgen eine Fortsetzung finden kann, nicht aber allabendlich der Traum. [...]
Diese aber erfolgt nicht gleich. Noch dazu verläuft die plötzliche Rückkehr des Gedächtnisses nicht immer so einfach. Oft hat man in jenen ersten Minuten, in denen man sich ins Erwachen gleiten lässt, eine Mehrheit von Wahrheiten vor sich und glaubt, man könne sich eine davon herausziehen wie ein Blatt aus einem Kartenspiel.

-- Die Gefangene, Bd. 8, S. 2912f

Zwei altbekannte Motive werden in dieser längeren Passage über das Erwachen aufgegriffen und verknüpft: das des Schlafes und das der Erinnerung.

Noch immer ist Marcel jeden Morgen aufs Neue verwundert davon, dass die Identität, die er mit dem Aufwachen wieder annimmt, stets die selbe ist. Schon früher hatte er sich gefragt, warum dies so sei. Hier ist es erstmals die Erinnerung, deren Fehlen beim Erwachen die Unsicherheit der Identität verursacht -- es ist also auch die Erinnerung, die wieder dafür sorgt, dass wir nach dem Aufstehen in die Welt zurückkehren als der, der sie am Abend zuvor in den Schlaf hinein verlassen hat.

Die Verknüpfung, die hiermit zwischen Erinnerung und Identität geschaffen ist, wird für den Erzähler -- das weiß man selbst beim ersten Lesen einzuschätzen -- in der Suche nach seinem Selbst vermutlich entscheidend sein. Für alle anderen bleibt der unbegreifliche Wandel zwischen den so verschiedenen Menschen, deren Identität wir nachts wie tags in ständigem Wechsel anzunehmen scheinen, ein Problem der Relativität: was ist es, das uns ermöglicht, einen jener vielen, die wir wechselnd sind, anzuerkennen als unser eines wahres Ich?
The waking life does still retain the superiority, inasmuch as it is possible to continue it every morning, whereas it is not possible to continue the dream life every night. [...]
However, the instantaneous gift of memory is not always so simple. Often we have before us, in those first minutes in which we allow ourself to slip into the waking state, a truth composed of different realities among which we imagine that we can choose, as among a pack of cards.

-- The Captive

Two well known motifs are repeated and combined in this longer passage: the sleep motif and the memory motif.

Marcel is still astonished every morning that the identity he picks up in the process of waking up is always the same. Earlier, he had already wondered why this should be so. Here, for the first time, it's the lack of memory during awakening that causes the uncertainty of identity -- it is therefore also memory that makes us enter the world in the morning as the very person that had left it into sleep the night before.

The connection between memory and identity that is hereby created will be vital for the narrator in his quest for identity -- this you may guess even in the first reading. The problem left for us, the incomprehensible alteration between the different persons, whose identity we seem to take in the day and in the night, is a problem of relativity: what is it, that enables us to accept one of those many identities we alternatingly take as our one true self?

Tuesday, 11. April 2006

Janus

Wie vielen Menschen gegenüber habe ich mich nicht fälschlich bezichtigt, nur damit meine Erfolge ihnen desto unmoralischer schienen und sie in stille Wut versetzten! Was eigentlich not täte, wäre, den umgekehrten Weg einzuschlagen und ohne Stolz zu zeigen, dass man gute Gefühle hat, anstatt sie bewusst zu verstecken. Es wäre ganz leicht, wenn man die Kunst verstände, nie zu hassen, sondern immer nur zu lieben.
-- Die Gefangene, Bd. 8, S. 2896

Marcel musste entdecken, wie widersprüchlich nicht nur die Menschen um ihn, sondern auch er selbst ist. Zu dem empfindlichen Jungen, der sich ohne seine Mutter in den Schlaf weinte ist ein durchtriebener junger Mann getreten, der nicht nur geschickt das Leben Albertines zu kontrollieren versucht, sondern auch geradezu absichtlich seine Freunde von den Kopf stößt.

Dabei ist er sich noch nichtsdestoweniger bewusst, wie falsch dieser zweite Marcel ist und wie er, schlechterdings wie ein erleuchteter Buddhist, diese Geisteshaltung gegen eine friedlichere, liebevollere eintauschen könnte.
To how many people have I not untruthfully slandered myself, simply in order that my ‘successes’ might seem to them immoral and make them all the more angry! The proper thing to do would be to take the opposite course, to shew without arrogance that we have generous feelings, instead of taking such pains to hide them. And it would be easy if we were able never to hate, to love all the time.
-- The Captive

Marcel had to discover the inconsistency not only in the people around him, but also in his own self. A young man, who not only cunnlingly controls Albertine's life but also deliberately shocks and mocks his friends has joined the sensitive boy that used to cry himself to sleep when his mother wasn't there.

Nevertheless he is conscious about the bogus nature of this second Marcel and how he could, essentially turned into an enlightened Buddhist, exchange this new state of mind against more peaceful and loving attitude.

Sunday, 19. March 2006

Lieben und Leiden

Woher im übrigen nimmt man den Mut zum Leben, wie kann man eine Geste machen, um sich vor dem Tod zu bewahren in einer Welt, in der die Liebe nur durch Lüge hervorgerufen wird und einzig in dem Bedürfnis besteht, unsere Leiden durch eben das Wesen gelindert zu sehen, das sie verursacht hat?
-- Die Gefangene, Bd. 8, S. 2874

Ist es Verbitterung, mit der der Erzähler hier seine Ansichten von der Liebe in einem Satz auf den Punkt bringt? Es ist ja fast schon Masochismus, der ihn in seiner Beziehung zu Albertine umtreibt. Und doch: einen wahren Kern kann man nicht leugnen.
Nur die Liebe ist es, die den Liebenden so verletzlich macht und ihn gleichfalls hoffen lässt, dass die unvermeidlichen Schmerzen, die ihm zugefügt werden mögen doch von ausgerechnet jeder Person, die sie zufügt, wieder geheilt werden. Dass die Liebe mehr ist als das -- armer Marcel, du konntest es nicht wissen.

Interessanterweise ist diese Passage eine, die Beckett in seinem Essay "Proust" aus dem Gedächtnis zitiert. Was für ein verlockender Gedanke für die von ihrer Liebe enttäuschten...
if it comes to that, how have we the courage to wish to live, how can we move a finger to preserve ourselves from death, in a world in which love is provoked only by falsehood, and consists merely in our need to see our sufferings appeased by the person who has made us suffer?
-- The Captive

Is it bitterness with which the narrator here summarizes his views on love? It's close to masochism what moves him in his relationship with Albertine. Still: there is an undeniable truth at the core of this matter.
Only love can make the lovers this vulnerable and let them at the same time hope that the inevitable pain to be inflicted upon them, shall be healed by the very person that has caused them. That love is more than this -- poor Marcel, you couldn't know.

Interestingly this passage is one of those Beckett quotes from memory in his essay "Proust". What a tempting thought for the love-sick...

Friday, 17. March 2006

All Revelation


Das Zögern des Erwachens offenbarte sich zwar in ihrem Schweigen, doch nicht in ihrem Blick.
Sie fand die Sprache wieder, sie sagte: 'Mein' oder 'Mein lieber', jeweils gefolgt von meinem Taufnamen, was, wenn man dem Erzähler den selben Vornamen verliehe, den der Verfasser dieses Buches trägt, ergeben hätte: 'Mein Marcel' oder 'Marcel, Liebling'.

-- Die Gefangene, Bd. 8, S. 2847

Es ist bemerkenswert, wie der Autor uns über fast 3000 Seiten geradezu an der Nase herumgeführt hat. Ein Ich-Erzähler ohne Name, von niemandem je direkt angesprochen.

Und dann, zu einem Zeitpunkt, da niemand mehr damit rechnet: die Enthüllung. Gleichzeitig wird die unsichtbare Wand zwischen Fiktion und Realität durchschritten, indem der Erzähler sich seiner Funktion bewusst wird.

Was hat dies zu bedeuten? Es scheint zum einen ein deutlicher Hinweis auf die schriftellerischen Absichten des Erzählers zu sein. Oder ist es ein neuer Erzähler, der uns jetzt als Marcel begegnet, einer, den wir zum ersten Mal wirklich kennen?
The uncertainty of awakening revealed by her silence was not at all revealed in her eyes. As soon as she was able to speak she said: “My——-” or “My dearest——” followed by my Christian name, which, if we give the narrator the same name as the author of this book, would be ‘My Marcel,’ or ‘My dearest Marcel.’
-- The Captive

Remarkable, indeed, how the author has tricked us for more than 3000 pages. A first person narrator without name, never directly approached by anyone.

And here, at a time noone would honestly count on it: the revelation. At the same time, the invisible border between fiction and reality is crossed as the narrator becomes conscious of his role.

Now what does this mean? For one thing, it seems to be a clear hint at the plans of the narrator to become an author. Or is it a new narrator, which for the first time we will really get to know as 'Marcel'?

Thursday, 16. March 2006

Proust and a weblog...

Seit mehr als einem Jahr nun lese ich den großen, vielleicht den größten Roman überhaupt: Marcel Proust's "Suche nach der verlorenen Zeit".

Wer immer Sie sind: vermutlich teilen Sie die Faszination für jene Suche, die uns über 4000 Seiten fesselt -- nur um festzustellen, dass wir am liebsten wieder von Vorne anfangen würden.

Im Moment befinde ich mich irgendwo im achten von zehn Bänden, am Anfang von "Die Entflohene". Proust ist unglaublich lohnend, unglaublich anders als zu jedem anderen Buch ist die Beziehung eines Lesers, der sich mit auf diese große Suche begibt. Unglaublich schwierig ist es aber auch, die Fäden nicht zu verlieren, die in jeder Episode neu verwebt werden.

Darum also dieses Blog. Für mich, damit ich meine Fäden wiederfinde -- und für Sie als etwas andere Sekundärliteratur, als Reisebericht eines Mitsuchenden.

Bei jeder Begebenheit, die mir bedeutend scheint, werde ich meine Gedanken hier aufschreiben. Vieles wird dabei mehrsprachig sein, soweit meine Kenntnisse es zulassen. Die deutschsprachigen Zitate stammen, soweit nicht anders angegeben, aus der zehnbändigen Ausgabe von 1979 aus dem Suhrkamp-Verlag.
For more than a year I've been reading the great novel, maybe the greatest novel ever: Marcel Proust's "Search for lost time".

Whoever you are: you probably share the fascination for this search, that absorbs you for 4000 pages -- only to make you want to start it all over again.

At the moment I'm somewhere within the eighth of ten volumes, at the beginning of "The Captive". Proust is incredibly rewarding, the relation of a reader to this book is incredibly different from any other. Yet it's also incredibly difficult not to lose track of all the threads that are interwoven in each of the episodes.

This is why I run this blog. It's for me, so I can regain my threads lost -- and for you as a particularly different kind of secondary literature, the travelogue of a fellow searcher.

For every event that I find remarkable I will post my thoughts here. Much will be multilingual, as far as my language skills allow. The English quotes from the book come from the online version from The University of Adelaide (see links).

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