Auftauchen des reitenden Boten
Marcel denkt nach auf dem Weg zur Soiree und alles scheint ihm sinnlos geworden zu sein - die Literatur, seine geistigen Bemühungen, alle Freuden, kurzum: das Leben. Da... (und ich verspreche Ihnen, Sie werden es nicht bereuen, den folgenden längeren Abschnitt zu lesen):
In dem Augenblick aber, in dem uns alles verloren scheint, erreicht uns zuweilen die Stimme, die uns retten kann; man hat an alle Pforten geklopft, die auf gar nichts führen, vor der einzigen aber, durch die man eintreten kann, und die man vergeblich hundert Jahre lang hätte suchen können, steht man, ohne es zu wissen, und sie tut sich auf.
Als ich die traurigen Gedanken, von denen ich eben sprach, noch in mir bewegte, war ich in den Hof des Guermantesschen Palais eingetreten und hatte in meiner Zerstreuung nicht bemerkt, dass ein Wagen sich näherte; beim Anruf des Chauffeurs hatte ich nur gerade noch Zeit, rasch auf die Seite zu springen. Ich wich so weit zurück, dass ich unwillkürlich auf die schlecht behauenen Pflastersteine trat, hinter denen eine Remise lag. In dem Augenblick aber, als ich wieder Halt fand und meinen Fuß auf einen Stein setzte, der etwas höher war als der vorherige, schwand meine ganze Mutlosigkeit vor der gleichen Beseligung dahin, die mir zu verschiedenen Epochen meines Lebens einmal der Anblick von Bäumen geschenkt hatte, die ich auf einer Wagenfahrt in der Nähe von Balbec wiederzuerkennen gemeint hatte, ein andermal der Anblick der Kirchtürme von Martinville oder der Geschmack einer Madeleine, die in einen Teeaufguss eingetaucht war [...]. Wie in dem Augenblick, in dem ich die Madeleine gekostet hatte, waren alle Sorgen um meine Zukunft, alle Zweifel meines Verstandes zerstreut. Die Bedenken, die mich eben noch wegen der Realität meiner literarischen Begabung, ja der Literatur selbst befallen hatten, waren wie durch Zauberschlag behoben. Ohne dass ich irgendeine neue Überlegung angestellt oder irgendein entscheidendes Argument gefunden hätte, hatten die soeben noch unlösbaren Schwierigkeiten alles Gewicht verloren. Diesmal aber war ich fest entschlossen, mich nicht damit abzufinden, dass ich nie das "Weshalb" kennen würde, wie ich es an jenem Tag getan hatte, an dem ich die in Tee getauchte Madeleine auf der Zunge verspürte. Die Beseligung, die ich eben empfunden hatte, war tatsächlich ganz die gleiche wie diejenige, die ich beim Geschmack der Madeleine gefühlt und deren tiefe Gründe zu suchen ich damals aufgeschoben hatte. Der auf das Gegenständliche beschränkte Unterschied lag in den Bildern, die dadurch heraufbeschworen wurden; ein tiefes Azurblau berauschte meine Augen, Eindrücke von Kühle, von blendendem Licht wirbelten um mich her, und in meinem Verlangen, sie zu erfassen, ohne dass ich deswegen eher mich zu rühren wagte als damals, da ich den Geschmack der Madeleine wahrnahm und versuchte, bis zu mir vordringen zu lassen, was er mir ins Gedächtnis rief, blieb ich ohne Rücksicht darauf, ob ich die zahlreich versammelte Schar der Chauffeure zum Lachen reizte, in schwankender Haltung stehen, wie ich es eben schon getan hatte, während mein einer Fuß auf dem hohen Pflasterstein, der andere auf dem niedrigen ruhte. Sooft ich nur rein materiell dieses gleiche Auf- und Abtreten vollzog, blieb es ergebnislos für mich; sobald es mir aber gelang, die Matinee bei den Guermantes zu vergessen und wiederzufinden, was ich empfunden hatte, als ich in dieser Weise meine Füße aufsetzte, war mir von neuem die undeutlich aufblendende Vision ganz nahe und schien zu mir zu sagen: "Hasche mich, wenn du die Kraft in dir hast, und versuche das Rätsel des Glücks, das ich dir aufgebe, zu lösen." Fast gleich darauf erkannte ich sie: er war Venedig, [...] eine Empfindung, wie ich sie einst auf zwei ungleichen Bodenplatten im Baptisterium von San Marco gehabt hatte.
-- Die wiedergefundene Zeit, Bd. 3/3, S. 3954ff
Falls Sie die vorangegangenen 3944 Seiten tatsächlich gelesen haben, und falls nicht kann ich das Ihnen an dieser Stelle nur nochmals wärmstens empfehlen, dann versetzt Sie diese Passage und das meiste des Folgenden vermutlich ebenso in eine kaum in Worte zu fassende Hochstimmung. Ernsthaft, das ist hier kein Feuilleton-Blah.
In diesem Moment, da ich sie abtippe, kann ich schon nicht mehr ganz nachvollziehen, wie oft ich diese Passage nun schon gelesen, vor mich hingesprochen, vorgelesen, durchblättert habe. Und das Gefühl kommt immer wieder auf. Ich würde gerne noch länger zitieren, am besten die nächsten zehn Seiten oder so, aber Sie wissen schon, Copyright; und ich bin ja auch keine Marathon-Schreibkraft; und ich wüsste auch ehrlich gesagt bislang gar noch nicht recht, wo aufhören. Ich schätze, Sie bekommen bald noch mehr zu lesen, wenn Marcel seine Empfindungen näher untersucht.
Es ist schon wahr, die reitenden Boten des Königs kommen sehr selten. Aber dieser hier, das können Sie mir glauben, hat es in sich.
Marcel thinks about life, the universe and everything on his way to the soiree, end all of the above seems to be devoid of sense - literature, his own attempts to intellectual achievement, pleasures, in short: life is senseless. Until... (and I promise, you won't regret reading the following lengthy passage):
But sometimes illumination comes to our rescue at the very moment when all seems lost; we have knocked at every door and they open on nothing until, at last, we stumble unconsciously against the only one through which we can enter the kingdom we have sought in vain a hundred years—and it opens.
Reviewing the painful reflections of which I have just been speaking, I had entered the courtyard of the Guermantes’ mansion and in my distraction I had not noticed an approaching carriage; at the call of the link-man I had barely time to draw quickly to one side, and in stepping backwards I stumbled against some unevenly placed paving stones behind which there was a coach-house. As I recovered myself, one of my feet stepped on a flagstone lower than the one next it. In that instant all my discouragement disappeared and I was possessed by the same felicity which at different moments of my life had given me the view of trees which seemed familiar to me during the drive round Balbec, the view of the belfries of Martinville, the savour of the madeleine dipped in my tea and so many other sensations of which I have spoken [...]. As at the moment when I tasted the madeleine, all my apprehensions about the future, all my intellectual doubts, were dissipated. Those doubts which had assailed me just before, regarding the reality of my literary gifts and even regarding the reality of literature itself were dispersed as though by magic. This time I vowed that I should not resign myself to ignoring why, without any fresh reasoning, without any definite hypothesis, the insoluble difficulties of the previous instant had lost all importance as was the case when I tasted the madeleine. The felicity which I now experienced was undoubtedly the same as that I felt when I ate the madeleine, the cause of which I had then postponed seeking. There was a purely material difference in the images evoked. A deep azure intoxicated my eyes, a feeling of freshness, of dazzling light enveloped me and in my desire to capture the sensation, just as I had not dared to move when I tasted the madeleine because of trying to conjure back that of which it reminded me, I stood, doubtless an object of ridicule to the link-men, repeating the movement of a moment since, one foot upon the higher flagstone, the other on the lower one. Merely repeating the movement was useless; but if, oblivious of the Guermantes’ reception, I succeeded in recapturing the sensation which accompanied the movement, again the intoxicating and elusive vision softly pervaded me as though it said “Grasp me as I float by you, if you can, and try to solve the enigma of happiness I offer you.” And then, all at once, I recognised that Venice which my descriptive efforts and pretended snapshots of memory had failed to recall; the sensation I had once felt on two uneven slabs in the Baptistry of St. Mark had been given back to me and was linked with all the other sensations of that and other days which had lingered expectant in their place among the series of forgotten years from which a sudden chance had imperiously called them forth.
-- Time regained
In case you have read the previous 3954 pages (and in case you haven't I can only recommend it as recommend can), this passage and most of what follows will probably have put you in a kind of elation that's hard to frame in words. Seriously, this is no feuilleton-speak.
At this very moment that I'm typing the passage into my computer (yes, Germans are not yet endowed with a public domain translation) I can't even remember how often I have read, re-read, read aloud or scanned through these pages. And the feeling keeps on coming again and again. I would love to quote even longer, possibly the next ten pages or so, but you know, this a only a blog and not an e-book after all. Plus I wouldn't yet know where to stop. So I guess you'll have more to read in the near future, when Marcel analyses his sensation.
Brecht is certainly right, messengers on horsebacks are rare, too rare, but this one, I promise, beats them all.
In dem Augenblick aber, in dem uns alles verloren scheint, erreicht uns zuweilen die Stimme, die uns retten kann; man hat an alle Pforten geklopft, die auf gar nichts führen, vor der einzigen aber, durch die man eintreten kann, und die man vergeblich hundert Jahre lang hätte suchen können, steht man, ohne es zu wissen, und sie tut sich auf.
Als ich die traurigen Gedanken, von denen ich eben sprach, noch in mir bewegte, war ich in den Hof des Guermantesschen Palais eingetreten und hatte in meiner Zerstreuung nicht bemerkt, dass ein Wagen sich näherte; beim Anruf des Chauffeurs hatte ich nur gerade noch Zeit, rasch auf die Seite zu springen. Ich wich so weit zurück, dass ich unwillkürlich auf die schlecht behauenen Pflastersteine trat, hinter denen eine Remise lag. In dem Augenblick aber, als ich wieder Halt fand und meinen Fuß auf einen Stein setzte, der etwas höher war als der vorherige, schwand meine ganze Mutlosigkeit vor der gleichen Beseligung dahin, die mir zu verschiedenen Epochen meines Lebens einmal der Anblick von Bäumen geschenkt hatte, die ich auf einer Wagenfahrt in der Nähe von Balbec wiederzuerkennen gemeint hatte, ein andermal der Anblick der Kirchtürme von Martinville oder der Geschmack einer Madeleine, die in einen Teeaufguss eingetaucht war [...]. Wie in dem Augenblick, in dem ich die Madeleine gekostet hatte, waren alle Sorgen um meine Zukunft, alle Zweifel meines Verstandes zerstreut. Die Bedenken, die mich eben noch wegen der Realität meiner literarischen Begabung, ja der Literatur selbst befallen hatten, waren wie durch Zauberschlag behoben. Ohne dass ich irgendeine neue Überlegung angestellt oder irgendein entscheidendes Argument gefunden hätte, hatten die soeben noch unlösbaren Schwierigkeiten alles Gewicht verloren. Diesmal aber war ich fest entschlossen, mich nicht damit abzufinden, dass ich nie das "Weshalb" kennen würde, wie ich es an jenem Tag getan hatte, an dem ich die in Tee getauchte Madeleine auf der Zunge verspürte. Die Beseligung, die ich eben empfunden hatte, war tatsächlich ganz die gleiche wie diejenige, die ich beim Geschmack der Madeleine gefühlt und deren tiefe Gründe zu suchen ich damals aufgeschoben hatte. Der auf das Gegenständliche beschränkte Unterschied lag in den Bildern, die dadurch heraufbeschworen wurden; ein tiefes Azurblau berauschte meine Augen, Eindrücke von Kühle, von blendendem Licht wirbelten um mich her, und in meinem Verlangen, sie zu erfassen, ohne dass ich deswegen eher mich zu rühren wagte als damals, da ich den Geschmack der Madeleine wahrnahm und versuchte, bis zu mir vordringen zu lassen, was er mir ins Gedächtnis rief, blieb ich ohne Rücksicht darauf, ob ich die zahlreich versammelte Schar der Chauffeure zum Lachen reizte, in schwankender Haltung stehen, wie ich es eben schon getan hatte, während mein einer Fuß auf dem hohen Pflasterstein, der andere auf dem niedrigen ruhte. Sooft ich nur rein materiell dieses gleiche Auf- und Abtreten vollzog, blieb es ergebnislos für mich; sobald es mir aber gelang, die Matinee bei den Guermantes zu vergessen und wiederzufinden, was ich empfunden hatte, als ich in dieser Weise meine Füße aufsetzte, war mir von neuem die undeutlich aufblendende Vision ganz nahe und schien zu mir zu sagen: "Hasche mich, wenn du die Kraft in dir hast, und versuche das Rätsel des Glücks, das ich dir aufgebe, zu lösen." Fast gleich darauf erkannte ich sie: er war Venedig, [...] eine Empfindung, wie ich sie einst auf zwei ungleichen Bodenplatten im Baptisterium von San Marco gehabt hatte.
-- Die wiedergefundene Zeit, Bd. 3/3, S. 3954ff
Falls Sie die vorangegangenen 3944 Seiten tatsächlich gelesen haben, und falls nicht kann ich das Ihnen an dieser Stelle nur nochmals wärmstens empfehlen, dann versetzt Sie diese Passage und das meiste des Folgenden vermutlich ebenso in eine kaum in Worte zu fassende Hochstimmung. Ernsthaft, das ist hier kein Feuilleton-Blah.
In diesem Moment, da ich sie abtippe, kann ich schon nicht mehr ganz nachvollziehen, wie oft ich diese Passage nun schon gelesen, vor mich hingesprochen, vorgelesen, durchblättert habe. Und das Gefühl kommt immer wieder auf. Ich würde gerne noch länger zitieren, am besten die nächsten zehn Seiten oder so, aber Sie wissen schon, Copyright; und ich bin ja auch keine Marathon-Schreibkraft; und ich wüsste auch ehrlich gesagt bislang gar noch nicht recht, wo aufhören. Ich schätze, Sie bekommen bald noch mehr zu lesen, wenn Marcel seine Empfindungen näher untersucht.
Es ist schon wahr, die reitenden Boten des Königs kommen sehr selten. Aber dieser hier, das können Sie mir glauben, hat es in sich.
Marcel thinks about life, the universe and everything on his way to the soiree, end all of the above seems to be devoid of sense - literature, his own attempts to intellectual achievement, pleasures, in short: life is senseless. Until... (and I promise, you won't regret reading the following lengthy passage):
But sometimes illumination comes to our rescue at the very moment when all seems lost; we have knocked at every door and they open on nothing until, at last, we stumble unconsciously against the only one through which we can enter the kingdom we have sought in vain a hundred years—and it opens.
Reviewing the painful reflections of which I have just been speaking, I had entered the courtyard of the Guermantes’ mansion and in my distraction I had not noticed an approaching carriage; at the call of the link-man I had barely time to draw quickly to one side, and in stepping backwards I stumbled against some unevenly placed paving stones behind which there was a coach-house. As I recovered myself, one of my feet stepped on a flagstone lower than the one next it. In that instant all my discouragement disappeared and I was possessed by the same felicity which at different moments of my life had given me the view of trees which seemed familiar to me during the drive round Balbec, the view of the belfries of Martinville, the savour of the madeleine dipped in my tea and so many other sensations of which I have spoken [...]. As at the moment when I tasted the madeleine, all my apprehensions about the future, all my intellectual doubts, were dissipated. Those doubts which had assailed me just before, regarding the reality of my literary gifts and even regarding the reality of literature itself were dispersed as though by magic. This time I vowed that I should not resign myself to ignoring why, without any fresh reasoning, without any definite hypothesis, the insoluble difficulties of the previous instant had lost all importance as was the case when I tasted the madeleine. The felicity which I now experienced was undoubtedly the same as that I felt when I ate the madeleine, the cause of which I had then postponed seeking. There was a purely material difference in the images evoked. A deep azure intoxicated my eyes, a feeling of freshness, of dazzling light enveloped me and in my desire to capture the sensation, just as I had not dared to move when I tasted the madeleine because of trying to conjure back that of which it reminded me, I stood, doubtless an object of ridicule to the link-men, repeating the movement of a moment since, one foot upon the higher flagstone, the other on the lower one. Merely repeating the movement was useless; but if, oblivious of the Guermantes’ reception, I succeeded in recapturing the sensation which accompanied the movement, again the intoxicating and elusive vision softly pervaded me as though it said “Grasp me as I float by you, if you can, and try to solve the enigma of happiness I offer you.” And then, all at once, I recognised that Venice which my descriptive efforts and pretended snapshots of memory had failed to recall; the sensation I had once felt on two uneven slabs in the Baptistry of St. Mark had been given back to me and was linked with all the other sensations of that and other days which had lingered expectant in their place among the series of forgotten years from which a sudden chance had imperiously called them forth.
-- Time regained
In case you have read the previous 3954 pages (and in case you haven't I can only recommend it as recommend can), this passage and most of what follows will probably have put you in a kind of elation that's hard to frame in words. Seriously, this is no feuilleton-speak.
At this very moment that I'm typing the passage into my computer (yes, Germans are not yet endowed with a public domain translation) I can't even remember how often I have read, re-read, read aloud or scanned through these pages. And the feeling keeps on coming again and again. I would love to quote even longer, possibly the next ten pages or so, but you know, this a only a blog and not an e-book after all. Plus I wouldn't yet know where to stop. So I guess you'll have more to read in the near future, when Marcel analyses his sensation.
Brecht is certainly right, messengers on horsebacks are rare, too rare, but this one, I promise, beats them all.
danielgruen - 6. Jan, 02:52
Sturznest - 6. Jan, 11:06
Vielen Dank fürs abtippen....
reply
Webcowgirl (guest) - 18. Jan, 13:43
Another Proust blogger!
How exciting to find another Proust blogger! You have finished it all and I am just about to start The Prisoner and the Fugitive. I shall have to read your older posts and synch up with where I am now. I feel this post gives me good encouragement to keep moving toward the finish line.
danielgruen - 24. Jan, 23:05
Hi Webcowgirl,
yeah, we Proust bloggers are slowly but surely becoming a great many. And believe me, there is hope for your overtaking me -- I am so slow at reading Time Regained you might as well finish it first :D
But yes, I surely think you should carry on reading, even though there might be a lot of lengthy soirees ahead, it'll all pay off...
yeah, we Proust bloggers are slowly but surely becoming a great many. And believe me, there is hope for your overtaking me -- I am so slow at reading Time Regained you might as well finish it first :D
But yes, I surely think you should carry on reading, even though there might be a lot of lengthy soirees ahead, it'll all pay off...